Goethes Briefe: GB 2, Nr. 256
An Johann Heinrich Merck

〈Frankfurt a. M. , zwischen 13. und 25. August 1775〉 → 〈Darmstadt〉

〈Druck〉


​ Jung ist nach Elberfeld zurück, und läßt Dich grüßen. Was treibst Du? Was macht die Wöchnerinn, und wird der Congreß bald zu Stande kommen?

Ich bin wieder scheißig gestrandet, und möchte mir tausend Ohrfeigen geben, daß ich nicht zum Teufel gieng, da ich flott war. Ich passe wieder auf neue Gelegenheit abzudrücken: nur möcht' ich wissen, ob Du mir im Fall mit einigem Geld beistehen wolltest, nur zum ersten Stoß.

Allenfalls magst Du meinem Vater beim künftigen Congreß klärlich beweisen, daß er mich auf's Frühjahr nach Italien schicken müsse; das heißt, zu Ende dieses Jahres muß ich fort. Daur' es kaum bis dahin, auf diesem Bassin herumzugondoliren, und auf die Frösch- und Spinnenjagd mit großer Feierlichkeit auszuziehen. Hast du wegen meiner Mspten. geschrieben? Ade. Zeichne und schick! Deine Sachen kriegst alle wieder. Amen.

Wenn die Annahme zutreffend ist, dass Jung nach dem 12. August 1775 aus Frankfurt abreiste (vgl. zu 207,15), wurde der Brief nach diesem Datum geschrieben. Das „Ausgabebüchlein“ verzeichnet unter dem 25. August eine Paketsendung an Merck (vgl. AB, 13). Denkbar ist, dass Goethe darin Mercks Sachen (208,6) zurückschickte, wie er es im vorliegenden Brief ankündigte. Dass der Brief diese Paketsendung selbst begleitete – in diesem Fall wäre der letzte Satz Deine Sachen kriegst alle wieder (208,6–7) nicht futurisch zu verstehen, sondern als Kommentar zum Paket, dem er beilag –, ist weniger wahrscheinlich als die Annahme, er sei nicht allzu lange nach Jungs Abreise geschrieben worden. Dafür spricht der Eingangssatz des Briefes. Auf jeden Fall stammt der Brief unter den genannten Voraussetzungen aus der Zeit zwischen dem 12. und 25. August 1775.

H: Verbleib unbekannt.

E: Merck, Briefe​1 (1835), 69, Nr 69 (nach H, aber mit [nicht angegebenen] Textauslassungen aus Rücksicht „​gegen die Lebenden und Zartgefühl für die Verstorbenen“ [vgl. Vorwort, S. V] sowie mit einer Korrektur in 207,18: „So braucht es 〈das Wort ‚scheißig‘〉 wenigstens ​Göthe in den Briefen an Merck 〈…〉 schon S. 69, Z. 12 〈= E〉, an welcher Stelle es jedoch (es sei hier gestanden!) aus Delicatesse mit ​garstig ist vertauscht worden 〈…〉.“ [Merck, Briefe​2, 60, Anm.]).

WA IV 2 (1887), 278 f., Nr 345 (nach DjG​1 3, 99 f.).

Textgrundlage: E unter Berücksichtigung der Korrektur.

scheißig] garstig ​E (vgl. Überlieferung)

Nach E lag dem Brief das Gedicht „An Belinden“ bei.

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

​Jung ist nach Elberfeld zurück] In der „Frankfurter Kaiserl. Reichs-Ober-Post-Amtszeitung“ (Nr 103 vom 30. Juni 1775) wird Johann Heinrich Jungs zweiter Aufenthalt in Frankfurt angekündigt: „Herr D. Jung aus Elberfeld hat vorigen März sieben Personen hier den grauen Staar extrahirt, wovon sechs alles wieder recht gut sehen können, der siebende aber, ein Herr von hohem Alter, noch nicht. Dieser rechtschaffene Arzt kommt den 2ten August deswegen wieder her, um wo möglich durch Gottes Beystand, auch diesen noch völlig herzustellen. Wer seiner Hülfe benöthigt ist, muß sich aber zeitlich bey mir melden, weil er nach dem 12ten August niemand mehr operiren wird.“ Wann genau Jung abreiste, konnte nicht ermittelt werden. Über den ersten Aufenthalt in Frankfurt vgl. zu 166,7.

Wöchnerinn] Mercks Frau Louise Françoise hatte am 25. Juli ihre Tochter Franziska Charlotte geboren. Der Begriff ‚Wöchnerin‘ wurde auf einen Zeitraum von sechs Wochen nach der Geburt bezogen (vgl. Grimm 14 II, 963).

Congreß] Gemeint ist eine Zusammenkunft zwischen Merck und Goethe in Frankfurt.

gestrandet] Der Ausdruck evoziert die Vorstellung einer unfreiwilligen Ankunft an einer unwirtlichen Küste. Dazu passt, dass Goethe im Folgenden die Frankfurter Verhältnisse mit einem Bassin (208,4) vergleicht, dessen beschränkter Raum ihn einenge. Die Reise in die Schweiz, die Goethe u. a. aus den Verwirrungen seiner Liebe zu Anna Elisabeth Schönemann befreien sollte, hatte nicht die gewünschte Wirkung getan.

zum Teufel gieng] ‚Zum Teufel gehen‘: „verschwinden, auch: sich davonmachen, -stehlen“ (GWb 3, 1296).

flott] In seemannssprachlicher Bedeutung: „auf dem Wasser schwimmend“ (Adelung 2, 222); ‚flott sein‘ (im Gegensatz zum zuvor gebrauchten ‚stranden‘): beweglich sein.

passe wieder auf] Auf etwas passen: „Auf etwas warten, merken, und Acht haben“ (Adelung 3, 666).

abzudrücken] ‚Abdrücken‘ hier im Bild der Schifffahrt: „(Schiff vom Lande) abstoßen“ (GWb 1, 23).

zum ersten Stoß] Vgl. die vorhergehende Erläuterung.

nach Italien] Johann Caspar Goethe hatte seinem Sohn schon vor dessen Reise in die Schweiz den Rat gegeben, er solle von dort einen Uebergang nach Italien machen (AA DuW 1, 599 [18. Buch]).

Daur' es] ‚Dauern‘ hier in transitivem Gebrauch: „Ausstehen, ertragen“ (Adelung 1, 1419).

wegen meiner Mspten. geschrieben] Ob es dabei auch um das von Februar bis April entstandene Drama „Stella“ ging (vgl. DjG​3 5, 453), welches Merck dem Berliner Buchhändler Gottlob August Mylius angeboten hatte (vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Goethe und Johann Heinrich Merck. Die Geschichte einer Freundschaft. T. 1. In: GJb N. F. 12 [1950], 215), ist unsicher. Mylius nahm das Drama jedenfalls im Oktober in Verlag.

Deine Sachen kriegst alle wieder.] Vermutlich sind Zeichnungen und Manuskripte Mercks gemeint.

Amen] Vgl. zu 17,5.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 256 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR256_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 207–208, Nr 256 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 522–524, Nr 256 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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