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Zum ersten und zweiten Band

Die beiden ersten Bände der vorliegenden Ausgabe umfassen die Briefe des jungen Goethe. Sie enthalten 397 Briefe Goethes an 69 Adressaten aus dem Zeitraum vom 23. Mai 1764 bis Ende Oktober 1775. Nachgewiesen werden außerdem 273 erschlossene Briefe an weit über 100 Adressaten, von denen nur etwa 30 mit den Adressaten der überlieferten Briefe identisch sind. Da nur Einzelbriefe aufgenommen wurden, die sich quellenmäßig belegen lassen, nicht aber ganze Briefgruppen, auf deren Existenz es lediglich allgemeine Hinweise gibt, ist anzunehmen, dass die Zahl der nicht überlieferten Briefe deutlich höher liegt, ebenso die Zahl der Adressaten (vgl. die Vorbemerkung zu den erschlossenen Briefen, GB 1 I, 257, GB 2 I, 227). – Im Anhang „Zweifelhaftes“ (Z) fanden drei Texte Aufnahme, deren Briefcharakter unsicher ist.

Den 397 überlieferten Briefen Goethes stehen lediglich 58 überlieferte Briefe an ihn gegenüber (vgl. RA 1, 49–63, Nr 1–55 sowie RA Ergänzungsbd zu den Bänden 1–5, 537–540, Nr 0+, 16a+ und 55a+). Dieses Missverhältnis kommt dadurch zustande, dass Goethe mehrfach ‚Autodafés‘ seiner frühen Werke veranstaltete und dabei auch die meisten der bis 1775 eingegangenen Briefe vernichtete (vgl. die einleitende Erläuterung zu GB 1, Nr 4). 19 Bezugs- und Antwortbriefe werden in den Erläuterungen der vorliegenden Bände vollständig abgedruckt und kommentiert (vgl. jeweils das Verzeichnis von Briefen und Dokumenten Dritter), alle übrigen Briefe an Goethe werden nachgewiesen und für die Kommentierung herangezogen.

Drei Briefe Goethes aus dem Zeitraum der vorliegenden Bände sind in der Weimarer Ausgabe (WA) nicht enthalten (GB 2, Nr 100, 163 und Z 1), 13 Briefe erschienen erst 1990 im Nachtragsband 51 (WAN 1). Fünf Briefe wurden in der WA entweder als voneinander getrennte Teildrucke oder als Gedicht gedruckt und werden in den vorliegenden Bänden als geschlossene Briefe dargeboten (GB 1, Nr 90; GB 2, Nr 54, 82, 131, 177). In vier Fällen konnten die Namen der Adressaten korrigiert oder ergänzt werden (GB 1, Nr 71, 73, 76; GB 2, Nr 118). Mehr als ein Drittel der Briefe wurde neu datiert, wobei die Neudatierungen zum Teil erheblich von den in der WA und auch von später vorgenommenen Datierungen abweichen (vgl. z. B. GB 1, Nr 88; GB 2, Nr 2, 21, 52, 85, 94, 98, 122, 126, 127, 150, 156, 161, 168, 202, 223, 227, 249). Ein in der WA unter zwei verschiedenen Datierungen und Nummern abgedruckter Brief an Johann Caspar Lavater [Druckseite VI] wurde unter korrigierter und präzisierter Datierung aufgenommen (GB 2, Nr 139).

42 Briefe mussten nach einem Druck, 36 nach einer Abschrift von fremder Hand, neun nach einer eigenhändigen Abschrift oder Gedächtnisrekonstruktion, einer nach einem eigenhändigen Konzept und drei nach einem Faksimile wiedergegeben werden; in allen anderen Fällen ist die Handschrift der Ausfertigung Textgrundlage. Im Vergleich zur WA konnte damit für zusätzlich etwa 10 Prozent der Briefe statt eines Drucks oder einer Abschrift die Handschrift selbst zugrunde gelegt werden.

Die Handschriften der Ausfertigungen von Goethes frühen Briefen befinden sich an 24 verschiedenen Standorten. 157 Briefe verwahrt das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, 31 Briefe die Universitätsbibliothek Leipzig, 30 das Freie Deutsche Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, elf die Biblioteka Jagiellońska in Kraków (bis 1945 Autographensammlung der Preußischen Staatsbibliothek Berlin), zehn das Goethe-Museum in Düsseldorf und acht das Staatsarchiv Wolfenbüttel. 23 Handschriften sind in Privatbesitz in Deutschland. In der Bibliothèque Nationale et Universitaire de Strasbourg befinden sich 13 Handschriften zu frühen Briefen Goethes, davon zwei Ausfertigungen, ein eigenhändiges Konzept, neun eigenhändige Abschriften oder Gedächtnisrekonstruktionen sowie zwei eigenhändige Handschriften zu Texten, deren Briefcharakter zweifelhaft ist. Weitere Standorte sind die Pierpont Morgan Library in New York mit drei Briefen und 24 textkritisch relevanten Abschriften, die Zentralbibliothek in Zürich mit zwei Briefen und sieben textkritisch relevanten Abschriften sowie die Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz mit einem Brief und zwei textkritisch relevanten Abschriften. In der Bibliotheca Bodmeriana Cologny-Genève werden drei, in den Städtischen Sammlungen Wetzlar, der UB Basel und im Geheimen Hausarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München jeweils zwei Briefe aufbewahrt. Im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, in der UB Lund, der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg, der UB Freiburg, der Bibliothèque Nationale Paris, im Hessischen Landesmuseum Darmstadt sowie dem Merck-Archiv Darmstadt befindet sich jeweils ein Brief.


Maßgebend für die Textkonstitution ist das Verständnis der Briefe als persönlicher Dokumente, die ihre Adressaten in exakt der äußeren Gestalt erreichten, in der sie von Goethe abgesandt worden sind. Daraus folgt, dass keinerlei Eingriffe in den Text (Lautstand, Orthographie, Interpunktion) vorzunehmen sind, ebenso [Druckseite VII] wenig Vereinheitlichungen, Glättungen und Emendationen, wie es noch zu den editorischen Gepflogenheiten der WA gehörte. Das betrifft in den Briefen des jungen Goethe insbesondere die uneinheitliche Groß- und Kleinschreibung von Substantiven und Eigennamen wie auch die durch das gesprochene Frankfurter Deutsch geprägten Wortformen, die in früheren Ausgaben vereinheitlicht oder sogar als Flüchtigkeitsfehler ‚verbessert‘ wurden. Auch bei echten Schreibversehen erfolgt eine Berichtigung ausschließlich im Kommentar. Streichungen und Korrekturen werden als Bestandteile des Textes betrachtet und daher nicht von diesem getrennt in einem gesonderten Apparat im Kommentarband, sondern als Autorvarianten im Textband mitgeteilt. Der Dokumentcharakter eines Briefes verlangt schließlich auch die Berücksichtigung der Beilagen.

Die Texte der Briefe, die von Goethe und noch einem weiteren Absender stammen (GB 2, Nr 169, 187) oder zu denen Goethe eine Nachschrift hinzugefügt hat (GB 2, Nr 112), werden vollständig wiedergegeben; zur visuellen Unterscheidung erscheint der nicht von Goethe stammende Text in Petitdruck.

In den Bänden 1 II und 2 II werden die Briefe des jungen Goethe erstmals umfassend wissenschaftlich kommentiert. In der Briefabteilung der WA finden sich dafür kaum Vorarbeiten. Ergiebiger sind die Ausgaben des „Jungen Goethe“ in der zweiten (DjG2 [1910–1912]) und dritten Auflage (DjG3 [1963– 1974]), herausgegeben von Max Morris und Hanna Fischer-Lamberg. Im Kommentar werden die Erläuterungen von Morris und Fischer-Lamberg dankbar genutzt, ebenso das in den 1960er und 1970er Jahren am Goethe- und Schiller-Archiv entstandene Manuskript zum ersten Kommentarband der damals in Vorbereitung befindlichen, aber nie erschienenen „Neuen Weimarer Ausgabe“ von Goethes Briefen, der von Hans Böhm bearbeitet wurde. Verpflichtet ist der Kommentar darüber hinaus selbstverständlich auch neueren kommentierten Ausgaben sowie der Forschungsliteratur. Wie die Auswertung früherer Kommentare zeigt, sind vor allem bei Morris Hinweise und Anregungen enthalten, die von allen späteren Herausgebern aufgegriffen, nicht selten aber ohne Quellenangabe übernommen wurden. Im Kommentar der vorliegenden Ausgabe findet daher auch eine kritische Bewertung der auf früheren Erläuterungen basierenden Angaben statt, falls – aus Mangel an anderen Quellen – direkt darauf verwiesen werden muss.

Begriffs- und Sacherklärungen, die Identifikation von Personen und der Nachweis von Zitaten dienen der möglichst lückenlosen Erschließung der Sachinhalte der Briefe. Konnte etwas nicht ermittelt werden, wird dies dem Leser expressis verbis mitgeteilt. Besonderes Augenmerk gilt den sprachlichen Erklärungen, [Druckseite VIII] da die Sprache des jungen Goethe von alten Bedeutungsbeständen lebt und stark durch das Frankfurter Deutsch geprägt ist, wodurch Missverständnisse leicht möglich sind.

Das Jahrzehnt zwischen 1764 und Oktober 1775 ist das unruhigste in Goethes Leben. So häufig wie später nie mehr wechselt er seinen Wohnort, von Frankfurt zieht er zum Studium nach Leipzig, später nach Straßburg, für ein paar Monate schließlich geht er als Praktikant ans Reichskammergericht nach Wetzlar, und immer wieder kehrt er zurück ins Elternhaus. Vielfältig sind auch die Beziehungen, die er in jenen Jahren knüpft. Zu den wichtigsten Briefpartnern gehören Goethes Schwester Cornelia, der Freund und Mentor Ernst Wolfgang Behrisch in Leipzig und Dessau, der Darmstädter Kriegsrat Johann Heinrich Merck, die mütterlichen Freundinnen Sophie La Roche und Johanna Fahlmer, der Straßburger Aktuar Johann Daniel Salzmann, der Zürcher Pfarrer und Physiognomiker Johann Caspar Lavater, Johann Gottfried Herder, damals Hofmeister in Straßburg, dann Pfarrer in Bückeburg, sowie der hannoversche Jurist Johann Christian Kestner und seine Verlobte und spätere Frau Charlotte Buff, die seit Erscheinen des „Werther“ als Vorbilder für Lotte und Albert gelten. Die Briefe dokumentieren nicht nur den äußeren Werdegang des Dichters, als authentische Lebenszeugnisse lassen sie auch unmittelbar teilhaben an dem, was ihn als 16-Jährigen, als 20- oder 25-Jährigen innerlich bewegte. Am Beginn des Jahrzehnts ist der Briefschreiber ein juveniler Student, als er Ende Oktober 1775 Frankfurt endgültig verlässt, um einer Einladung des Weimarer Herzogs zu folgen, der berühmte Autor des „Götz von Berlichingen“ und des „Werther“.

Über den Sachkommentar hinaus, der allein für das Verständnis der Briefe nicht ausreichend erscheint, widmet sich die Kommentierung vor allem dem sich verändernden persönlich-biographischen Umfeld des Absenders wie auch den Persönlichkeiten der Adressaten und deren Beziehungen zu Goethe. Auf diesen sozial-kommunikativen Aspekt eines persönlichen Briefes, der als Teil eines schriftlich geführten Dialogs verstanden wird, gehen übergreifende Erläuterungen ein, die sich auf den Brief als Ganzes beziehen, aber auch zusammenfassende Überblickskommentare, die über den Einzelbrief hinaus die Gesamtkorrespondenz Goethes mit einem Adressaten beleuchten. Sie informieren, in der Regel in Zusammenhang mit dem ersten Brief Goethes an den jeweiligen Empfänger, über dessen Biographie, über Beginn und Verlauf der Beziehung zu Goethe sowie über Charakter und Entwicklung des Briefwechsels. Soweit möglich, wird der Verlauf des Briefwechsels dokumentiert, und zwar durch [Druckseite IX] Mitteilung der Korrespondenzstelle eines Briefes, also durch Hinweise auf Bezugs- und Antwortbriefe und durch die Verknüpfung mit der Regestausgabe der Briefe an Goethe (RA).