Goethes Briefe: GB 2, Nr. 250
An Augusta Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg

Frankfurt a. M. , 25. und 31. Juli 1775. Dienstag und Montag → 〈Schloss Bernstorff bei Kopenhagen〉

〈Druck〉


Ich will Ihnen schreiben Gustgen liebe Schwester, ob ich gleich, wäre ich iezt bei Ihnen schwerlich reden würde. Ich muss anfangen! Wie weit ists nun von mir zu Ihnen. Gut denn, wir werden uns doch sehn.

Bin wieder in Frankfurt, habe mich von unsern Brüdern in Zürch getrennt, schweer ward's uns doch. – Das denck ich, wird Gustgen sagen. – Friz, meine Liebe, ist nun im Wolckenbade und der gute Geist der um uns alle schwebt, wird ihm gelinden Balsam in die Seele giessen. Ich litt mit ihm und durft nicht dergleichen thun. Ich bitte Sie – wenigstens lassen Sie mich iezt nichts davon sagen – und wer kann davon sagen – Ich war dabey wie die lezte Nachricht kam. Es war in Strasburg. Gute Nacht Schwester Engel. Einen herzlichen Grus der Gräfin Bernstorf.

Den 31. Jul. Wenn mirs so recht weh ist, kehr ich mich nach Norden, wo sie dahinten ist zweyhundert Meil von mir meine geliebte Schwester. Gestern Abend Engel hatt' ich so viel Sehnen zu ihren Füssen zu liegen, ihre Hände zu halten, und schlief drüber ein, und heute früh ist's wieder frisch mit dem Morgen. Beste theilnehmende Seele, immer den Himmel im Herzen und nur unglücklich durch die Deinigen! – Aber wie du auch geliebt wirst!

Ich muss noch viel herumgetrieben werden, und dann einen Augenblick an Ihrem Herzen! – Das ist immer so mein Traum, meine Aussicht durch viel Leiden. – Ich habe mich so offt am Weiblichen Geschlecht betrogen – O Gustgen wenn ich nur einen Blick in Ihr Aug thun könnte! – Ich will schweigen – Hören Sie nicht auf, auch für mich zu seyn. Ade.

Hier Gustgen ein altes verlohrnes Zettelgen das ich wiederfinde.

H: Verbleib unbekannt; 1930 Herzogliche Lehnsbibliothek Sagan (heute Zagan, Polen), Slg der Herzogin Dorothea von Dino und Sagan (vgl. Überlieferung zu Nr 196). – Egh. (vgl. Goethe-Stolberg​1 [1839], 95).

E: Goethe-Stolberg​1 (1839), 95–97, Nr 6.

D: Goethe-Stolberg​2 (1881), 20 f., Nr 6.

WA IV 2 (1887), 270 f., Nr 340 (wahrscheinlich nach D).

Textgrundlage: D. – Die Handschrift wurde für Goethe-Stolberg​2 neu verglichen (vgl. Überlieferung zu Nr 196).

bei] bey​ E ​ hatt'] hat'​ E  ist's] ist​ E 

Zettelgen (202,10).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

liebe Schwester] Diese Anrede hatte Goethe schon in seinem ersten Brief an Augusta zu Stolberg vom 18. bis 30. Januar 1775 gebraucht, als ihm deren Identität noch nicht bekannt war (vgl. 160,11). Hier wurde sie wohl auch mit Bezug auf die kurz zuvor beendete gemeinsame Schweizer Reise mit den Brüdern (201,17) Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg gewählt.

Wie weit] Die Adressatin hielt sich seit dem 30. Juni 1775 auf Schloss Bernstorff bei Kopenhagen auf, dem Landsitz ihres Schwagers Andreas Peter von Bernstorff und ihrer Schwester Henriette. Wie aus den überlieferten Briefen Augustas hervorgeht, wurde ihr die Post dorthin nachgesandt (vgl. Schumann, Auguste Stolberg, 272–282). – Nach dem Tod der Mutter Charlotte Christiane zu Stolberg Ende 1773 war der Landsitz vor allem in den Sommermonaten zum Treffpunkt der Stolberg'schen Geschwister geworden (vgl. zu 213,11).

wir werden uns doch sehn] Demnach plante Goethe damals eine Reise nach Hamburg, möglicherweise gemeinsam mit Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg. Allerdings kam das auch später noch in Aussicht gestellte Treffen mit der Adressatin nie zustande, so dass an der Ernsthaftigkeit des Vorsatzes gezweifelt werden darf (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 188).

wieder in Frankfurt] Goethe war am 22. Juli 1775 von seiner Schweizer Reise zurückgekehrt (vgl. zu 197,21).

von unsern Brüdern 〈…〉 getrennt] Etwa am 3. Juli 1775 hatten sich Goethe und die Brüder Stolberg in Zürich getrennt.

schweer ward's uns] Über den Abschied von Goethe berichtet Friedrich Leopold zu Stolberg in einem Brief vom 1. Juli 1775 aus Zürich an Voß: „Uebermorgen treten wir unsere Reise in die kleinen Kantons an. Darum schreibe ich heute schon, ob gleich dieser Brief erst den 5ten abgeht. Göthe verläßt Zürich zwei Tage nach uns, wir werden ihn sehr vermissen, es ist ein herrlicher Junge, wir sind ihm u: er uns herzlich gut geworden.“ (Stolberg-Voß, 35.) Ganz ähnlich lautet der Bericht im Brief an Klopstock ebenfalls vom 1. Juli: „Göthe wird zwo Tage nach uns Zürch verlassen. Er geht zurück. Sein Verlust schmerzt uns sehr, wir hätten so gern die ganze Schweizer Reise mit ihm gemacht, er eilt aber nach Hause. Den Gothard hat er von hier aus besucht, u: ist ganz entzückt davon.“ (Klopstock, Briefe HKA 6 I, 220.)

Friz] Friedrich Leopold zu Stolberg.

im Wolckenbade] Kompositum Goethes, sonst nicht belegt; nicht bei Grimm. – Die Brüder Stolberg unternahmen von Zürich aus zwei Reisen, von denen die kürzere, etwa am 3. Juli begonnene Alpenwanderung auch auf den Sankt Gotthard führte. Wie ein Brief von Friedrich Leopold zu Stolberg vom 18. Juli 1775 aus Zürich an Voß belegt, waren er und sein Bruder etwa am 15. Juli wieder zurückgekehrt: „Vor einigen Tagen sind wir von einer 11tägigen Pilgerschaft nach dem Gotthard u: in die ganz freien kleinen katholischen Kantons, zurückgekommen.“ (Stolberg-Voß, 37 f.) Von Zürich aus traten die Brüder Stolberg dann ihre große Rundreise an, die sie u. a. durch Graubünden, in die italienische Schweiz an den Comer und Luganer See, nach Genf und von dort über Bern und Basel zurück nach Zürich führte.

Ich litt mit 〈…〉 dergleichen thun.] Anspielung auf Friedrich Leopold zu Stolbergs unglückliche Liebe zu der Engländerin Sophie Catharina Hanbury und zugleich auf Goethes eigenes ungeklärtes Verhältnis zu Anna Elisabeth Schönemann. Stolberg hatte die Engländerin während seines Aufenthaltes in Hamburg im April 1775 kennen gelernt und sich leidenschaftlich verliebt.

die lezte Nachricht] Am 25. Mai hatte Friedrich Leopold zu Stolberg ein Brief des Hamburger Freundes Jacob (Toby) Mummsen erreicht, der die Mitteilung enthielt, dass Sophie Hanbury Stolbergs Liebe nicht erwidern könne und nur freundschaftliche Gefühle für ihn hege (vgl. Brief Friedrich Leopold zu Stolbergs an seine Schwester Katharina, 27. Mai 1775; Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Briefe. Hrsg. von Jürgen Behrens. Neumünster 1966, S. 45, Nr 32). Noch Anfang Mai, kurz nach der Abreise der Brüder Stolberg aus Hamburg, hatte offenbar Hoffnung bestanden, dass sie Stolbergs Werbung nachgeben könnte. Am 10. Mai schrieb Augusta an die Brüder in Frankfurt: „Sophie vor meiner Abreise nicht noch zu sehn, daß ward mir schwer, aber die Eltern wollten es nicht, und man muß izt ja nichts thun waß Sie nicht wünschen, und waß sie böse machen könte – o ich habe noch immer Hofnung, bis eine décisive antwort komt, und die wollen Sie nicht eher geben bis der Sohn geschrieben hat, daß denke ich, und hoffe alles von seinen Briefen.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 267.) Bereits am 16./17. Mai aber schrieb Augusta an ihren Bruder Christian: „Du weißt wie die Sache mir am Herzen lag, wie ganz sie die meine war, wie jede Hofnung mich nur aufrichten konte – izt sind wir aus der tödtenden ungewißheit, um in einer noch quälenderen Gewißheit zu kommen – Sophie liebt unsern Bruder nicht! ihr Herz ist für einen andern eingenommen! – ich kan nicht mehr sagen, seit einer Stunde weiß ich's erst, und ich bin betäubt – Ich will S[ophie] nicht beurtheilen, ihr Zustand dauert mich, das arme Mädchen mag genug gelitten haben – aber wie konnte sie, da sie Liebe kennt, so reden, so handeln – ich denke immer ihr gutes Herz, war damals gerührt, und dachte an die Folgen nicht – hätte Sie nur eher gesagt daß sie einen andern liebe, hat man Sie doch so oft darnach gefragt – vermuthlich hat sie Ihren Eltern es verborgen, und furchte sich izt es zu gestehn – 〈…〉.“ (Schumann, Auguste Stolberg, 267 f.)

in Strasburg] Die Reisenden waren, von Karlsruhe kommend, am 24. Mai in Straßburg eingetroffen, von wo aus Goethe am 27. weiter nach Emmendingen reiste; die Stolbergs blieben noch bis Anfang Juni in Straßburg.

Gräfin Bernstorf] Henriette Gräfin zu Bernstorff, die älteste Schwester Augusta zu Stolbergs, Hausherrin von Schloss Bernstorff.

Beste theilnehmende Seele 〈….〉 die Deinigen!] Dazu passt Augustas Selbstcharakteristik, z. B. in einem Brief an Boie vom 7. März 1775: „〈…〉 ich bleibe aber dabey, ich bin durch mein Empfindungs-volles Herz nicht glüklich. und doch wollte ich es nicht mißen Gott seegne mir, mein gutes warmes, zur Freude und zum Schmerz so sensibles Herz – 〈…〉.“ (Briefe an Boie, 339.)

Zettelgen] Nicht überliefert. – Möglicherweise handelt es sich um die schon im Brief vom 19. bis 25. März angekündigte Beilage (vgl. zu 178,19).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 250 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR250_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 201–202, Nr 250 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 509–511, Nr 250 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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