Goethes Briefe: GB 2, Nr. 236
An Johann Georg Zimmermann

Frankfurt a. M. , 3. Mai 1775. Mittwoch → 〈Hannover〉


Hier schick ich l. Zimmerm. Briefe von Lav. über die höchst eckelhaffte Sache. Ich bitte Sie, helfen Sie mir ihn tag täglich unempfindlicher ​1 zu machen, gegen all das Nebel und Kröten Geschlecht, das gegen ihn aufsteigt, und weder ausgerottet noch gedemütigt werden mag. Der Magnet zieht die Feilspäne aus Staub und Spreu an sich, und so ist's doch am Ende mit dem Edlen auch, er wühlt unter der Menge mit liebendem Würcken, und zieht nur wenige zu sich, die seiner Natur sind. Können Sie nun aber wieder der Menge verdencken, wenn sie sich gegen das Wühlen und Würcken auflehnt, das sie nur drängt und schiebt, ohne Einfluss auf sie zu haben. Antworten Sie doch Lavat. bald, und Leben recht wohl. Franckf.       dℓ. 3 May 75 ​2.


Goethe.

  1. unempf×​indlicher​ ↑
  2. 7×​5​ ↑

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 9696. – Doppelblatt 13,8 × 19,2 cm, ¾ S. beschr., egh., Tinte. – Faksimile: Briefe von Goethe und Frau von Stein an Johann Georg Zimmermann (vgl. E), zwischen S. 180 und 181.

E: Bernhard Suphan: Briefe von Goethe und Frau von Stein an Johann Georg Zimmermann. In: Wartburgstimmen 2 (1904). 1. Mai-Heft, S. 171 (unter dem falschen Datum des 3. März 1775).

WA IV 30 (1905), 6 f., Nr 328a.

Briefe Lavaters an Goethe (vgl. 189,4).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Postsendungen: 5. Mai 1775 (AB, 8).

Johann Georg (seit 1786: von) Zimmermann (1728–1795), ein gebürtiger Schweizer, hatte in Göttingen bei Albrecht von Haller Medizin studiert und war nach ärztlicher Tätigkeit als Stadtphysikus in Brugg seit 1768 königlich britischer Leibarzt in Hannover. Zimmermann, der ‚philosophische Arzt‘, selbst zeitlebens unter Depressionen und Hypochondrie leidend, wurde viel im In- und Ausland konsultiert und war ein beachteter Schriftsteller, der mit medizinischen und popularphilosophischen Publikationen Aufmerksamkeit erregte. Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Von der Erfahrung in der Arzneykunst“ (Bd 1–2. Zürich 1763–1764; ein 3. Band blieb unveröffentlicht) und die Schriften über die Melancholie: „Betrachtungen über die Einsamkeit“ (Zürich 1756), „Von der Einsamkeit“ (Leipzig 1773) sowie „Ueber die Einsamkeit“ (4 Tle. Leipzig 1784–1785). Zimmermann war mit Johann Caspar Lavater befreundet, an dessen „Physiognomischen Fragmenten“ er Anteil nahm.

Zur ersten persönlichen Begegnung mit Goethe kam es am 12. Juli 1775 in Straßburg. Zimmermann befand sich auf dem Weg in die Schweiz, Goethe auf dem Rückweg von dort. Zuvor war gelegentlich in Briefen an Johann Christian und Charlotte Kestner die Rede von Zimmermann; im August 1774 hatte Goethe ihm über Charlotte seinen Schattenriss geschickt (vgl. 123,3–4). Ende September 1775 war Zimmermann einige Tage bei Goethe in Frankfurt zu Gast. Diesem Besuch widmete Goethe ausführliche Erinnerungen im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“, in denen er ein widersprüchliches Bild Zimmermanns entwirft: einerseits ein gewandter weltmännischer Arzt, andererseits ein innerlich ungebändigter Charakter, der große Verdienste, aber kein inneres Behagen gehabt habe, ein geschickter Arzt für andere, aber für sich selbst voll unseliger Hypochondrie und für seine Kinder ein schlechter Vater (vgl. darüber zu 218,16): Ja dieser brave Mann führte bey äußerem Ansehen, Ruhm, Ehre, Rang und Vermögen, das traurigste Leben 〈…〉. (AA DuW 1, 539 und 540.) Über Zimmermanns Aufenthalt vgl. auch 218,8–20. Dieser seinerseits berichtete am 22. Oktober 1775 an Charlotte von Stein: „J'ay eté loyé à Francfort chés Monsieur Göthe, un des génies les plus extraordinaires et les plus puissants qui ayent jamais passé dans le monde.“ (Fränkel, Goethe-Stein​2 1, 8. – Ich habe in Frankfurt bei Herrn Goethe gewohnt, einem der außerordentlichsten und gewaltigsten Genies, die jemals durch die Welt gegangen sind.)

Es entwickelte sich zwischen Goethe und Zimmermann eine lose Beziehung, die nur einige Jahre währte. Zimmermann beteiligte sich an dem „Klatsch über die tolle Wirthschaft in Weimar“ (Rudolf Ischer: Johann Georg Zimmermann's Leben und Werke. Bern 1893, S. 146). So teilte er z. B. am 19. Juni 1776 Herder einen Brief von Charlotte von Stein mit, der Goethe kompromittieren und Herder vor der Übersiedlung nach Weimar warnen sollte (vgl. dazu Herders Antwort vom 26. Juni 1776 sowie die Erläuterungen dazu; HB 3, 276 und 11, 642 f.). Goethe distanzierte sich daraufhin von Zimmermann (vgl. seinen Brief an Charlotte von Stein vom 25. Juni bis 9. Juli [Briefteil vom 5. Juli] 1776; WA IV 3, 84, Nr 484). Lavater versuchte, Zimmermann von solchem „Anti-Weymarismus“ (Lavater an Zimmermann, 16. Mai 1777; Im neuen Reich 8 [1878]. Bd 2, S. 608) zurückzuhalten, doch der äußerte sich weiterhin abfällig, wie im Brief an Lavater vom 3. November 1777: „Zuverlässig weis ich daß er 〈Goethe〉 in Weimar als Minister schlechterdings ​nichts wirkt, übrigens gantz nach seinen Lüsten leben soll 〈…〉.“ (Goethe-Lavater​3, 352.)

Vom Briefwechsel zwischen Goethe und Zimmermann sind nur drei Briefe Goethes überliefert, außer dem vorliegenden zwei weitere aus den ersten Monaten in Weimar (vgl. auch EB 221, 225, 231, 234, 235); von Zimmermann hat sich kein Brief an Goethe erhalten.

l. Zimmerm.] Lieber Zimmermann.

Briefe von Lav.] Entsprechende Briefe Lavaters an Goethe sind nicht überliefert.

die höchst eckelhaffte Sache] Der Streit mit Johann Jakob Hottinger (vgl. zu 188,13).

mag] ‚Mögen‘ hier im Sinne von ‚vermögen‘ (vgl. Adelung 3, 257).

ohne Einfluss auf sie zu haben] Nach dem Bild vom Magnet und den Eisenspänen: Die ‚Menge‘ wird durch das ‚Wühlen und Wirken‘ der unter magnetischer Anziehung stehenden ‚Feilspäne‘ in ‚Staub und Spreu‘ beunruhigt und bedrängt, ohne dass sie selbst für diese Anziehungskraft empfänglich wäre.

Lavat.] Lavater.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 236 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR236_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 189, Nr 236 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 482–484, Nr 236 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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