Goethes Briefe: GB 2, Nr. 175
An Carl Ludwig von Knebel

Frankfurt a. M. , 28. 〈Dezember〉 1774. 〈Mittwoch〉 → 〈Karlsruhe〉


Ich muss nur anfangen lieber Knebel, ich muss Sie anbohren, sonst erfahr ich wohl von all dem nichts was ich so gern wissen mögte; wie's Ihnen allzusammen bisher gangen ist? ​1 was für Würckung die neuen Menschen auf Sie thun? Von ​2 allem mögt ich mein Theil haben, soviel ich wissen darf. Also von mir anzufangen. Mir war's ganz seltsam ​3 als ich so unter dem Tohr der drey Kronen stund als es anfing zu tagen. Recht wie vom Vogel Greif in eine fremde Welt unter alle die Sterne u. Kreuze hinunter geführt, und dadrein so mit ganz offnem Herzen herumgewebt, und auf einmal alles verschwunden.

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Und nun iezt krieg ich Ihren Brief verzeihen Sie mir meinen Unglauben, danck herzlichen Danck. Wenns möglich ist soll der Landgräfinn Grab gefertigt werden. Von Ihrer Schwester freut mich das gar sehr. Wieland / hat mir geschrieben, hat meinen Grus iust so aufgenommen wie ich ihn gab – Empfelen Sie mich denen Prinzen viel, fühlt Gr. Görz was für mich?. – Schreiben Sie mir ich bitte Sie vom Presidenten Hahn einige bedeutende Worte. In Vergleich mit andern Presidenten! ieden nach seiner Art. Ihre Worte über Klopstock sind herrlich. Lieben Sie mich. Geben Sie meine Sachen nur nicht aus Händen. Es wäre nichts dran gelegen wenn nicht gewisse Leute was draus ​4 machten. Und dann bitt ich Sie sondiren Sie mir wo möglich den Marckgrafen u Presidenten über meinen Schwager den Schlosser5. Auch unbedeutende Worte geben Licht.

Adieu wann sehn wir uns wieder? dℓ. 28. Frfurt 1774.

G.

  1. ist,​?​ ↑
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  3. selb​tsam​ ↑
  4. d×​raus​ ↑
  5. ⎡den Schlosser⎤​ ↑

Der fehlende Monat ergibt sich aus dem Inhalt des Briefes (vgl. zu 152,23). Was den Bestimmungsort angeht, so dürfte es sich um Karlsruhe handeln. Dort hielt sich Knebel mit den weimarischen Prinzen Constantin und Carl August vom 17. Dezember 1774 bis 3. Januar 1775 am badischen Hof auf, wo sich am 18. Dezember Carl August mit Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt verlobt hatte. (Die offizielle Verlobungsfeier fand erst am 28. Januar 1775 während einer „Reise des Durchℓ: Herzogs von Straßburg nach Karlsruhe“ statt.) Von Karlsruhe führte Knebels Paris-Reise zunächst nach Straßburg. (Angaben nach der Rechnungsakte der Reise im ThHStA Weimar [Sign.: A 81]; vgl. die einleitende Erläuterung.)

H: Biblioteka Jagiellońska Kraków (Krakau), Autographensammlung Goethe, bis 1945 Preußische Staatsbibliothek Berlin, Sign.: Ms. Germ. 4​o. 521, Bl. 3. – 1 Bl. 18,5 × 22,9 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte; Text auf S. 2 offenbar rasch geschrieben; Bl. unten vom Rand her an der Längsfaltung eingerissen, Riss an der Querfaltung mit Papierstreifen restauriert. – In einem Konvolut mit schwarzem Ledereinband (weiter vgl. Überlieferung zu Nr 169).

E: Goethe-Knebel (1851) 1, 5 f., Nr 2 (unter dem falschen Datum 28. Februar 1774).

WA IV 2 (1887), 221 f., Nr 273 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 211).

Der zweite Teil des Briefes antwortet auf einen nicht überlieferten Brief Knebels (vgl. 152,21). – Einen Antwortbrief gibt es nicht; in Nr 181 fragt Goethe erneut nach seinen Sachen (vgl. 152,29 und 157,3).

Carl Ludwig von Knebel (1744–1834) wurde von Goethe selbst in den „Aufklärenden Bemerkungen“ zu seinem Gedicht „Meinem Freunde von Knebel zum 30. November 1817“ (WA I 4, 83) als Weimarischer Urfreund bezeichnet. Knebel, der aus einer fränkischen Familie aus Ansbach stammt, war nach abgebrochenem Studium der Rechte in Halle 1765 in die preußische Armee eingetreten und hatte im Frühjahr 1773 als Leutnant den Dienst quittiert. Auf der Heimreise nach Franken machte er im September desselben Jahres in Weimar einen Besuch, der ihm im Sommer 1774 die Berufung als Erzieher des weimarischen Prinzen Constantin durch Herzogin Anna Amalia einbrachte. Knebel begleitete Constantin und dessen älteren Bruder Carl August auf ihrer Kavaliersreise nach Paris, die vom 8. Dezember 1774 bis zum 21. Juni 1775 dauerte. Der Weg führte sie u. a. über Frankfurt, Mainz, Karlsruhe und Straßburg. Die Reiseroute ist in der Rechnungsakte im ThHStA Weimar (Sign.: A 81) dokumentiert.

Am 12. Dezember 1774 hatte Knebel Goethe in Frankfurt besucht (hierzu und zur Familie Knebels vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 169). Im 15. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ erinnert sich Goethe: Als ich nun 〈…〉 bey gesperrtem Lichte in meinem Zimmer saß, 〈…〉 so trat ein wohlgebildeter schlanker Mann bey mir ein, den ich zuerst in der Halbdämmerung für Fritz Jacobi hielt, bald aber meinen Irrthum erkennend als einen Fremden begrüßte. An seinem freyen anständigen Betragen war eine gewisse militairische Haltung nicht zu verkennen. Er nannte mir seinen Namen ​von ​Knebel 〈…〉. (AA DuW 1, 528.) Das Gespräch beschäftigte sich mit Literarischem. Knebel zeigte sich genau mit allem bekannt, was ​Götz geschrieben, der unter den Deutschen damals noch keinen Namen hatte. (Ebd.) Danach sprach Knebel über die Verhältnisse in Weimar, über die Goethe schon manches Günstige vernommen hatte (AA DuW 1, 529). Knebel seinerseits schrieb an seine Schwester Henriette, er habe in Frankfurt den besten aller Menschen (147,6) getroffen, und an Friedrich Justin Bertuch, Goethe sei „eine der ausserordentlichsten Erscheinungen“ in seinem Leben (Brief vom 23. Dezember 1774; H: GSA 6/995). Am gleichen Tag, am 12. Dezember, hatte er Goethe auch mit den beiden Prinzen bekannt gemacht. Einen Tag später folgte Goethe einer Einladung nach Mainz, wohin die Gesellschaft weitergereist war. Dies war der Beginn der freundschaftlichen Beziehung nicht nur zu Knebel, sondern auch zum späteren Herzog Carl August. In den ersten zehn Jahren in Weimar wurde Knebel Goethes vertrautester Freund. Zwar besaß er nach Goethes Urteil eine falsch wahre Hypochondrische Art die sachen zu sehn (Tagebuch vom 31. Juli 1778; GT I 1, 65) und war schwanckend in seinem Wesen (Tagebuch von Dezember 1778; GT I 1, 69), aber er hatte auch – wie die früheren Freunde Behrisch, Langer und Salzmann – ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und eine Fähigkeit, die Goethe Mittlerschafft nannte: er sieht alles reiner und würckt nur zu wahren Zwecken. (Brief an Charlotte von Stein, 29. Oktober 1780; WA IV 4, 326.) Zu diesen Zwecken gehörte etwa die Aussöhnung zwischen Goethe und Friedrich Heinrich Jacobi (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 226) oder die Heirat mit der Sängerin Luise Rudorf im Jahr 1798, die einen zweijährigen Sohn von Herzog Carl August mit in die Ehe brachte. – Mit Unterbrechungen, so vor allem im Jahrzehnt der Verbindung zwischen Goethe und Schiller (1795–1805), als Knebel sich stärker Herder zuwandte, blieb der Adressat mit Goethe bis zu dessen Tod in Freundschaft verbunden.

Im Frühjahr 1781 endete Knebels Aufgabe als Prinzenerzieher; der erst 36-Jährige erhielt eine lebenslange Pension und den Titel eines Majors. Er war zwar materiell gut versorgt, fühlte sich jedoch ohne Amt unwohl. Goethe versuchte ihm zu helfen; er riet zum Reisen und Schreiben. Knebel ging nach Franken und kam im Sommer 1784 nach Weimar zurück und zog kurz darauf nach Jena, wo er bis an sein Lebensende blieb. Diese Zeit wurde unterbrochen durch einen sechsjährigen Aufenthalt in Ilmenau, wohin sich Knebel nach seiner Heirat 1798 zurückgezogen hatte. Obwohl es in dieser Zeit zu keiner persönlichen Begegnung mit Goethe kam, stellte sich beider vertrautes Verhältnis nach Knebels Rückkehr nach Jena 1804 rasch wieder her.

Knebel betätigte sich als Schriftsteller und Übersetzer, litt jedoch trotz vielfältiger Interessen unter seiner Unstetheit; er sei zu gespannt bey Faullenzerey und Wollen ohne was anzugreifen, fand Goethe (Tagebuch von Dezember 1778; GT I 1, 69). Neben meist ungedruckten populärphilosophischen Aufsätzen – z. B. über die Natur des Menschen, über die Unsterblichkeit u. a. – in den 90er Jahren schrieb er schon seit Anfang der 70er Jahre Gedichte (Hymnen, Elegien, Gelegenheitsgedichte), die teils einzeln, teils gesammelt publiziert wurden: „Sammlung kleiner Gedichte“ (Leipzig 1815), „Jahresblüthen“ (Weimar 1825), „Lebensblüthen“ (Jena 1826). Stärkere Beachtung fanden seine Übersetzungen „Elegieen von Properz“ (Leipzig 1798) und „Von der Natur der Dinge“ (2 Bde. Leipzig 1821); an dieser Übersetzung von Lukrez' „De rerum natura“ hatte Knebel auf Anregung Herders seit 1784 gearbeitet. – Der vorliegende Brief ist der erste Brief Goethes an Knebel; insgesamt sind über 400 Briefe Goethes an den Freund überliefert; beider Korrespondenz reicht bis ins Jahr 1832 (vgl. Goethe-Knebel sowie Johann Wolfgang Goethe: Repertorium sämtlicher Briefe 1764–1832. Internetveröffentlichung der Klassik Stiftung Weimar, GSA).

Ihnen allzusammen] Gemeint sind außer Knebel die Prinzen Carl August und Constantin von Sachsen-Weimar und Eisenach.

die neuen Menschen] Der Zirkel am Hof des Markgrafen Karl Friedrich von Baden in Karlsruhe, darunter Klopstock und die im weiteren Verlauf des Briefes Genannten.

drey Kronen] Gasthof in Mainz.

als es anfing zu tagen] Am Morgen des 16. Dezember; im Verlauf des Tages brachen Carl August und sein Gefolge nach Mannheim und Karlsruhe auf. Goethe kehrte nach Frankfurt zurück.

Vogel Greif] „Der Greif ist ein großes und starkes, majestätisches Mischwesen altoriental. Herkunft, prototypisch als griech.-archaischer Greif mit adlerähnlichem Kopf und löwenartigem Körper, von ambivalentem 〈…〉 Charakter“ (Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch 〈…〉 hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich 〈…〉. Bd 10. Berlin, New York 2002, Sp. 1026). In mittelalterlichen Abenteuerromanen wie „Herzog Ernst“ und im Alexanderroman wurde die bis in die Antike zurückgehende Sage vom Magnetenberg, die Goethe im „Werther“ erwähnt (vgl. DjG​3 4, 131 [1. Teil, Brief vom 26. Juli]; 2. Fassung: WA I 19, 58), zu einem Komplex von Motiven ausgebaut, zu denen auch die Rettung des Helden durch den Flug mit einem Greifen gehört.

Kreuze] Der Plural geht auf das Kreuz des Südens zurück: ein Sternbild des südlichen Himmels, dessen hellste Sterne sich durch ein Kreuz verbinden lassen.

Ihren Brief] Nicht überliefert.

meinen Unglauben] Bezieht sich auf den Anfang des Briefes.

soll der Landgräfinn Grab gefertigt werden] Es wird vermutet, es handle sich um die Skizze eines Grabmals für die am 30. März 1774 verstorbene Landgräfin Karoline von Hessen-Darmstadt (vgl. DjG​2 6, 399, zu Nr 287; DjG​3 4, 389), vielleicht von Knebel in seinem nicht überlieferten Brief an Klopstock aufgezeichnet (vgl. Beilage zu Nr 169). Vgl. auch zu 103,1.

Von Ihrer Schwester freut mich das gar sehr.] Gemeint ist die Reaktion Henriette von Knebels auf den von Goethe und Knebel gemeinsam an sie gerichteten Brief vom 13. Dezember (Nr 169). Knebels Schwester hatte am 19. Dezember an ihren Bruder geschrieben: „Die Freude, daß ein Goethe weiß, daß auch ich existire, sogar an mich schreibt – mir ist noch, als wenn ich träumte, ob ich wohl den Brief schon ganz auswendig weiß 〈…〉, und wiewohl ich 〈…〉 schon zehn Briefe an ihn geschrieben habe, so habe ich doch nicht das Herz, einen davon wegzuschicken. Nicht um meiner Ehre willen möchte ich einen schlechten Brief an diesen Mann schreiben, und ihm die gute Idee benehmen, die ihm vielleicht mein Karl von mir mag beigebracht haben 〈…〉. Nun, mein bestes Karlchen, hast Du nicht die Güte für mich und schreibst mir meine Antwort, und schickst sie mir? 〈…〉 Noch etwas habe ich auf dem Herzen. Ich habe ein paar Filetmanschetten geendigt 〈….〉. Nun möchte ich sie gar zu gern an Goethen schicken. Sage mir Deine Meinung deswegen!“ (K. L. v. Knebel-H. v. Knebel, 9.)

Wieland hat mir geschrieben] Der Brief antwortete auf Goethes ersten Brief an Wieland (vgl. EB 50), den er ihm am 13. Dezember oder an einem der beiden folgenden Tage aus Mainz geschrieben hatte; beide Briefe sind nicht überliefert. Vgl. zu 149,14.

Gr. Görz] Johann Eustachius Graf von Schlitz, genannt von Goertz, Geheimer Rat in Weimar, „welchem die OberAufsicht über derer Durchlauchtigsten Prinzen Erziehung anvertrauet“ war (Hof- und Adreß-Calender für die Jahre 1774, S. 84); er gehörte zu deren Begleitung auf der Reise nach Paris. Goethe hatte ihn am 12. Dezember in Frankfurt kennen gelernt (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 169). 1775 wurde er Oberhofmeister der Herzogin Louise. Er war Goethe nicht wohlgesinnt; Gründe waren zunächst dessen „gemeine Ausfälle“ gegen Wieland. Im Brief an seine Frau vom 26. bis 29. März 1775 schrieb Goertz unumwunden: „Ce Gœthe est un villain! 〈…〉 Chose bien décidée, c'est que Gœthe et moi nous nous trouverons jamais dans la même chambre.“ (Othmar von Stotzingen: Beiträge zur Jugendgeschichte des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar. In: JbFDH 1909, 357 und 358. – „Dieser Goethe ist ein gemeiner Kerl! 〈…〉 Das ist sicher: Goethe und ich werden uns nie im selben Zimmer befinden!“ [Bode 1, 111.]) Nach Goethes Eintritt in Weimar fühlte sich Goertz durch ihn in den Hintergrund gedrängt und trat 1778 in preußische Dienste.

Presidenten Hahn] August Johann von Hahn, markgräflich badischer Geheimer Rat, Regierungs-, Hofrats- und Kirchenratspräsident in Karlsruhe, Vorgesetzter von Goethes Schwager Johann Georg Schlosser, der Oberamtmann der Markgrafschaft Hochberg war.

bedeutende Worte] Bedeutend: hier in dem im 18. Jahrhundert üblichen Sinn von „bedeutsam, gehaltvoll, aussagekräftig“ (GWb 2, 155).

Klopstock] Knebel traf ihn in Karlsruhe, wo sich Klopstock einige Monate auf Einladung des Markgrafen Karl Friedrich aufhielt (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 157).

meine Sachen] In Knebels Brief an Friedrich Justin Bertuch vom 23. Dezember 1774 heißt es: „Ich habe einen Haufen Fragmente von ihm, unter andern zu einem Doctor Faust, wo ganz ausnehmend herrliche Scenen sind.“ (H: GSA 6/995; vgl. auch BG 1, 309.)

Marckgrafen] Karl Friedrich von Baden.

Schlosser] Vgl. zu 152,26–27.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 175 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR175_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 152–153, Nr 175 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 378–382, Nr 175 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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