Goethes Briefe: GB 2, Nr. 157
An Johann Lorenz Böckmann

〈Frankfurt a. M. 〉, 14. und 15. November 1774. Montag und Dienstag → 〈Karlsruhe〉


Ich komme vom Eis, erst durch eine Gesellschafft, und durch ein Abend Essen am Tisch wo Sie auch sasen. ich bin sehr ​1 müde ich habe bahn gemacht gekehrt mit den Meinigen ​2, neue Freta entdeckt pp.

Ich war auf m Eis pp. dℓ. 14 Nov. 1774. das Ihnen nur so hingeworfen, wie ich s Ihnen sagen möchte, noch Nachts um 10 Uhr. Morgen mehr.

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Martini Abend |:ich hielte das Blat gestern Nacht für einen Briefbogen, will auch nun so fortfahren:| Martini Abend hatten wir das erste Eis, und vom Sonntag auf den Montag Nachts fror es so starck dass ein kleiner Teich der sehr flach vor der Stadt liegt, trug. das entdeckten zweye3 Morgends verkündigten mirs, da ich sogleich Mittags hinauszog, besiz davon nahm, den Schnee wegkehren, die hindernden Schilfe abstosen lies, durch ungebahnte Weege durchsezzte, da mir denn die andern mit schaufel und Besen folgten, ​4 und ich selbst nicht wenig Hand anlegte. Und so hatten wir in wenig Stunden den Teich umkreiset u. durchkreuzt / und wie weh thats uns als wir ihn bey unfreundlicher Nacht verlassen mussten. der Mond ​5 wollte nicht herauf, nicht hinter den Schneewolcken hervor, und heute thaut alles dahin.     Dieses alles habe ​6 sogleich zu melden, für meine Schuldigkeit erachtet, und hoffe ein gleiches von Ihnen. Haben Sie neue Schrittschue machen lassen? ​7 ich habe niemand finden können dem ich die Verfertigung hätte anvertraut. Schicken Sie mir doch den ​Satyros! Und behalten mich im Andencken ​8 der Liebe!

Goethe.

  1. ×​sehr​ ↑
  2. ×​Meinigen​ ↑
  3. w​zweye​ ↑
  4. folgten.​,​ ↑
  5. St​Mond​ ↑
  6. z​habe​ ↑
  7. lassen,​?​ ↑
  8. Andenckens​ ↑

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 2413. – 1 Bl. 17,5(–18,5) × 29,4 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte, flüchtig geschrieben; Vs. oben rechts: 52.

E: Wagner (1847), 109 f., Nr 41.

WA IV 2 (1887), 203 f., Nr 259 (nach E und DjG​1 [1875] 3, 42, Nr 34; Hinweis auf H und Textkorrekturen in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 210).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Johann Lorenz Böckmann (1741–1802), aus Lübeck gebürtig, lebte seit 1764 in Karlsruhe, wo er als Professor für Mathematik und Physik am akademischen Gymnasium, der von den badischen Markgrafen begründeten Fürstenschule, lehrte. Als studierter Theologe war er außerdem seit 1768 badischer Konsistorialassessor und seit 1774 Kirchenrat. In den folgenden Jahrzehnten erwarb sich Böckmann Verdienste um das badische Schulwesen, reformierte die Lehrerausbildung und gründete u. a. 1778 das „Badische Institut der Meteorologie“.

Goethes Bekanntschaft mit dem Adressaten hatte Friedrich Gottlieb Klopstock vermittelt. Dieser hielt sich auf Einladung des Markgrafen Karl Friedrich von Baden von Ende September 1774 bis März 1775 in Karlsruhe auf und wohnte im Hause Böckmanns (am Schlossplatz 9). Auf seiner Reise in die badische Residenz hatte Klopstock vom 27. bis 29. September in Frankfurt Station gemacht, um Goethe zu besuchen (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 113). Entweder bereits bei Klopstocks Ankunft oder in den Wochen danach muss auch Böckmann in Frankfurt gewesen sein, wo er Goethe kennen lernte und gemeinsam mit ihm bei dessen Freunden, der Familie Crespel, zu Gast war (vgl. zu 135,2). 1774 scheint Goethes Beziehung zu Böckmann rein privat-freundschaftlicher Natur gewesen zu sein. Später kam es gelegentlich auch zu wissenschaftlichem Austausch, insbesondere im Zusammenhang mit der „Farbenlehre“, wie aus dem zweiten überlieferten Brief Goethes an den Adressaten vom 24. August 1797 hervorgeht (vgl. WA IV 12, 268–270, Nr 3644). Die fünf überlieferten Briefe Böckmanns an Goethe stammen aus den Jahren 1794, 1797 und 1798 (vgl. RA 1, 276, Nr 846; 350, Nr 1131; RA 2, 260, Nr 927; 313, Nr 1106; 399 f., Nr 1454). Im historischen Teil der „Farbenlehre“ findet sich im Abschnitt „Deutsche gelehrte Welt“ auch ein Verweis auf ein Werk des Adressaten (vgl. LA I 6, 350). – Zu einer persönlichen Begegnung zwischen Goethe und Böckmann ist es in späterer Zeit offenbar nicht noch einmal gekommen.

vom Eis] Vom Eislaufen. Offenbar teilte auch der Adressat die Begeisterung für das Schlittschuhlaufen, was möglicherweise auf den Einfluss seines Karlsruher Hausgenossen Klopstock zurückgeht (vgl. auch zu 151,18–19). In Goethes Erinnerung an den Besuch Klopstocks in Frankfurt spielt dieses Thema gleichfalls eine besondere Rolle: Eine andere Eigenheit der Weltleute hatte er 〈Klopstock〉 auch angenommen, nämlich nicht leicht von Gegenständen zu reden, über die man gerade ein Gespräch erwartet und wünscht. Von poetischen und literarischen Dingen hörte man ihn selten sprechen. Da er aber an mir und meinen Freunden leidenschaftliche Schlittschuhfahrer fand, so unterhielt er sich mit uns weitläuftig über diese edle Kunst, die er gründlich durchgedacht und was dabey zu suchen und zu meiden sey, sich wohl überlegt hatte. (AA DuW 1, 538 [15. Buch].)

am Tisch wo Sie auch sasen] Gemeint ist ein gemeinsames Abendessen mit Goethe im Haus des Juweliers Louis Crespel in der Eschenheimer Gasse im Kreise von dessen Kindern Johann Bernhard und Maria Catharina Crespel sowie von Goethes Freund Johann Adam Horn. Von dieser Geselligkeit zeugt Goethes Gelegenheitsgedicht „Ein theures Büchlein siehst du hier 〈…〉“, das er am 13. und 14. November 1774 in ein Stammbuch eingetragen hat, das ursprünglich Johann Peter de Reynier gehörte (vgl. DjG​3 4, 271–273). Der Teil des Gedichts vom 14. November, der also unmittelbar vor der Niederschrift der Anfangspassage des vorliegenden Briefes entstanden ist, lautet:

Den Abend drauf nach Schrittschuh fahrt, Mit Jungfräulein von edler Art Staats Kirschen Tort, gemeinem Bier Den Abend zugebracht alhier. Und Augelein schön und Lichter Glanz, Ram Sitha Hanneman und sein Schwanz,

(DjG​3 4, 273; zum letzten Vers vgl. auch zu 183,4). – Das Stammbuch, das als Geschenk in Goethes Besitz überging, wurde von ihm als Skizzenbuch genutzt; es befindet sich heute in der Bibliotheca Bodmeriana in Genf-Cologny.

bahn gemacht gekehrt] Eine schneefreie Eisfläche zum Schlittschuhlaufen hergestellt (vgl. den im Brief folgenden Bericht).

Freta] Lat. fretum: Kanal, Meerenge, Sund. – Wie aus dem Kontext zu schließen ist, sind hier offenbar flache Stellen in einem Gewässer gemeint, die leicht zufroren und sich zum Schlittschuhlauf eigneten.

Martini] Am Martinstag, dem 11. November.

hielte das Blat 〈…〉 für einen Briefbogen] Möglicherweise stammte das für den vorliegenden Brief verwendete Blatt aus einem Manuskript Goethes, worauf die Blattzahl oben rechts sowie das im Vergleich zu anderen Briefen größere Papierformat verweisen (vgl. Überlieferung).

zweye] Zwei Freunde Goethes; Näheres nicht ermittelt.

Schrittschue] Ältere Nebenform zu ‚Schlittschuhe‘: „die alte sprache kennt ausschlieszlich die bildung ​schrittschuh zum verb ​schreiten, schuh zu weitem schritt.“ (Grimm 9, 759.) Als Schlittschuhe wurden damals nur die Metallkufen bezeichnet, nämlich „glatte viereckte vorn krumm gebogene Stäbe von Eisen oder Stahl, welche man unter die Schuhsohlen befestiget, um vermittelst derselben schnell auf dem Eise fortzuschreiten“ (Adelung 3, 1659). Auch der Gebrauch der Wortform ‚Schrittschuhe‘ scheint auf Klopstocks Frankfurter Besuch Ende September 1774 zurückzugehen: Ehe wir jedoch seiner 〈Klopstocks〉 geneigten Belehrung theilhaft werden konnten, mußten wir uns gefallen lassen, über den Ausdruck selbst, den wir verfehlten, zurecht gewiesen zu werden. Wir sprachen nämlich auf gut Oberdeutsch von Schlittschuhen, welches er durchaus nicht wollte gelten lassen: denn das Wort komme keinesweges von Schlitten, als wenn man auf kleinen Kufen dahin führe, sondern von Schreiten, indem man, den Homerischen Göttern gleich, auf diesen geflügelten Sohlen über das zum Boden gewordene Meer hinschritte. (AA DuW 1, 538 [15. Buch].)

die Verfertigung hätte anvertraut] Auch diese Stelle könnte wieder in Bezug zu Klopstock stehen, der offenbar sehr genaue Vorstellungen davon hatte, wie Schlittschuhe beschaffen sein mussten: Nun kam es an das Werkzeug selbst; er wollte von den hohen hohlgeschliffenen Schrittschuhen nichts wissen, sondern empfahl die niedrigen breiten flachgeschliffenen Friesländischen Stähle, als welche zum Schnelllaufen die dienlichsten seyen. (Ebd., 538 [15. Buch].)

​Satyros] Gemeint sein muss ein handschriftliches Exemplar der im Sommer 1773 entstandenen Farce „Satyros oder der vergötterte Waldteufel“, die zunächst nur in Abschriften Verbreitung fand und erst 1817 im Druck erschien (vgl. Goethe's Werke. Bd 9. Stuttgart und Tübingen 1817, S. 307–336; Hagen, 41, Nr 20). Wahrscheinlich hatte der Adressat bei seinem Besuch in Frankfurt von Goethe eine dieser Abschriften erhalten. – Mit dem vorliegenden Brief an Böckmann wurde 1905 eine Abschrift des Dramas von unbekannter Hand angekauft, die aus dem Nachlass Friedrich Heinrich Jacobis stammen soll (FDH/FGM 2414; zur Provenienz der Abschrift vgl. Die Autographen-Sammlung Alexander Meyer Cohn's. Mit einem Vorwort von Erich Schmidt. 1. T. Berlin 1905, S. 106, Nr 1136). Diese Abschrift kann demnach nicht mit der von Goethe zurückerbetenen identisch sein, sondern wurde wahrscheinlich nach einer weiteren Abschrift angefertigt, die sich ebenfalls in Jacobis Besitz befunden haben muss. Offenbar gingen viele der frühen Abschriften verloren, wie Goethes Brief vom 11. Januar 1808 an Jacobi belegt, in dem er sich ausdrücklich für eine im Oktober 1807 (vgl. RA 5, 268 f., Nr 756) zurückgesandte Abschrift des „Satyros“ bedankte: Mit dem Satyros hast du mir viel Freude gemacht. Dieses Document der göttlichen Frechheit unserer Jugendjahre hielt ich für ganz verloren. Ich wollte es einmal aus dem Gedächtniß wieder herstellen; aber ich brachte es nicht mehr zusammen. (WA IV 20, 6.) Auf diese von Jacobi zurückgesandte Abschrift geht der Erstdruck von 1817 zurück (h: GSA 25/XX,4; neuere Drucke basieren auf einer Abschrift Louise von Göchhausens aus der zweiten Hälfte der 1770er Jahre, h: GSA 24/25,5; vgl. DjG​3 3, 298–321 und 463).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 157 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR157_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 135, Nr 157 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 338–341, Nr 157 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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