Goethes Briefe: GB 2, Nr. 155
An Johann Christian und Charlotte Kestner

〈Frankfurt a. M. , Oktober 1774〉 → Hannover


Ich muss euch gleich schreiben meine Lieben, meine Erzürnten, dass mirs vom Herzen komme. Es ist gethan, es ist ausgegeben, verzeiht mir wenn ihr könnt. – Ich will nichts, ich bitte euch, ich will nichts von euch hören, biss der Ausgang bestätigt haben wird dass eure Besorgnisse zu hoch gespannt waren, biss ihr dann auch im Buche selbst das unschuldige Gemisch von Wahrheit und Lüge reiner an euerm Herzen gefühlt haben werdet. Du hast Kestner, ein liebevoller Advokat, alles erschöpft, alles mir weggeschnitten, was ich zu meiner Entschuldigung sagen könnte; aber ich weis nicht, mein Herz hat noch mehr zu sagen, ob sichs gleich nicht ausdrücken kann.

Ich schweige, nur die frohe Ahndung muss ich euch hinhalten, ich mag gern wähnen, und ich hoffe, dass das ewige Schicksaal, mir das zugelassen hat, um uns fester an einander zu knüpfen. Ja meine besten, ich der ich so durch Lieb an euch gebunden bin, muss noch euch und euern Kindern ein Schuldner werden für die böse Stunden / die euch meine —— nennts wie ihr wollt gemacht hat. Haltet, ich bitt euch haltet Stand. Und wie ich in deinem letzten Briefe dich ganz erkenne Kestner, dich ganz erkenne Lotte, so bitt ich bleibt! bleibt in der ​1 ganzen Sache, es entstehe was wolle. — Gott im Himmel man sagt von dir: du kehrest alles zum besten.

Und meine lieben wenn euch der Unmuth übermannt, denckt nur denckt, dass der alte euer Goethe, immer neuer und neuer, und ietzt mehr als iemals der eurige ist.

  1. di​er​ ↑

Der vorliegende Brief ist eine Antwort auf Kestners erste briefliche Reaktion nach der Lektüre des „Werther“, den Goethe etwa am 19. September 1774 oder kurz danach übersandt hatte (vgl. die erste Erläuterung zu 131,17). Ein weiterer Anhaltspunkt für die Datierung ergibt sich aus Goethes Bemerkung, dass das Buch inzwischen erschienen sei (vgl. 133,21). „Die Leiden des jungen Werthers“ wurden zur Leipziger Herbstmesse 1774 ausgeliefert, die am 2. Oktober begonnen hatte. Der Brief kann also erst danach geschrieben worden sein.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,3, Bl. 7–8. – Doppelblatt 18,7(–18,9) × 23 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte; S. 4 Adresse: Herrn Archivsekretarius / Kestner / nach / Hannover.; rote Siegelreste, oberhalb der Adresse Siegelausschnitt; S. 1 oben in der Mitte von fremder Hd, Bleistift: „1774. Oct.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 132 f., Nr 49.

WA IV 2 (1887), 200 f., Nr 255.

Der Brief beantwortet den Brief Kestners von Ende September/Anfang Oktober 1774, der als Konzept überliefert ist (abgedruckt in der folgenden Erläuterung; vgl. auch RA 1, 58, Nr 36). – Wahrscheinlich antwortete Kestner erst mit seinem nicht überlieferten Brief von etwa Mitte November 1774 (vgl. zu 137,22).

meine Erzürnten] Diese Anrede und die folgenden Passagen beziehen sich auf den Inhalt von Kestners Brief, mit dem er auf die Lektüre des „Werther“ reagierte hatte:


Euer Werther würde mir großes Vergnügen machen können, da er mich an manche interessante Scene und Begebenheit erinnern könnte. So aber, wie er da ist, hat er mich, in gewissem Betracht, schlecht erbauet. Ihr wißt, ich rede gern wie es mir ist.

Ihr habt zwar in jede Person etwas Fremdes gewebt, oder mehrere in eine geschmolzen. Das ließ ich schon gelten. Aber wenn Ihr bey dem Verweben und Zusammenschmelzen euer Herz ein wenig mit rathen lassen; so würden die würcklichen Personen, von denen ihr Züge entlehnet, nicht dabey so prostituirt seyn. Ihr wolltet nach der Natur zeichnen, um Wahrheit in das Gemälde zu bringen; und doch habt Ihr so viel widersprechendes zusammengesetzt, daß Ihr gerade Euren Zweck verfehlt habt. Der Herr Autor wird sich hiergegen empören, aber ich halte mich an die Würcklichkeit und an die Wahrheit selbst, wenn ich urtheile, daß der Maler gefehlt hat. Der würcklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid seyn, wenn sie Eurer da gemalten Lotte gleich wäre. Ich weiß es wohl, daß es eine Composition seyn soll; allein die Herd, welche Ihr zum Theil mit hineingewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr eurer Heldin beymesset. Es bedurfte aber des Aufwandes der Dichtung zu Eurem Zwecke und zur Natur und Wahrheit gar nicht, denn ohne das – eine Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin – erschoß sich Jerusalem.

Die würckliche Lotte, deren Freund Ihr doch seyn wollt, ist in Eurem Gemälde, das zu viel von ihr enthält, um nicht auf sie starck zu deuten, ist, sag' ich – doch nein, ich will es nicht sagen, es schmerzt mich schon zu sehr da ichs dencke. Und Lottens Mann, Ihr nanntet ihn Euren Freund, und Gott weiß, daß er es war, ist mit ihr – Und das elende Geschöpf von einem Albert! Mag es immer ein eignes nicht copirtes Gemählde seyn sollen, so hat es doch von einem Original wieder solche Züge (zwar nur von der Aussenseite, und Gott sey's gedanckt, nur von der Aussenseite) daß man leicht auf den würcklichen fallen kann. Und wenn Ihr ihn so haben wolltet, mußtet ihr ihn zu so einem Klotze machen? damit ihr etwa auf ihn stolz hintreten und sagen könntet, seht was ich für ein Kerl bin!


(K: Stadtarchiv Hannover)

8 prostituirt] Prostituieren: hier: gemein und verächtlich machen. 15 die Herd] Elisabeth Herd geb. Egell, die Frau des Gesandtschaftssekretärs Herd in Wetzlar, in die Carl Wilhelm Jerusalem unglücklich verliebt gewesen sein soll.



es ist ausgegeben] Gemeint ist der Roman „Die Leiden des jungen Werthers. Erster und Zweyter Theil. Leipzig, in der Weygandschen Buchhandlung. 1774“ (vgl. Hagen 110, Nr 80), der zur Leipziger Herbstmesse 1774 erschienen war (vgl. Datierung).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 155 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR155_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 133–134, Nr 155 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 335–336, Nr 155 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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