Goethes Briefe: GB 2, Nr. 140
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. 〉, 24. und 28. 〈August 1774. Mittwoch und Sonntag〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉


Was ist liebe Mama, was ist das Herz des Menschen? ​1 sind der würcklichen Ubel nicht genug? Muss es sich auch noch aus sich selbst phantastische schaffen! doch was klag ich ​2! die Unruhe u. Ungewissheit sind unser Theil. und lassen Sie uns die tragen mit Muth, wie ein braver Sohn der die Schulden seines Vaters übernommen hat. Unsre Briefe haben sich gekreuzt. Hier ist Reichens Brief wieder. Mein voriger Brief antwortet auf das übrige. Nur mit dem Dechant hab ich nicht gesprochen, mag auch nicht mit ihm von der Max reden. Warum sie hinab will? – Sie sagte mir gestern: „es seye eine Idee von Brentano. Sie mögten nur ia dazu sagen, vielleicht wendete er wieder seinen Sinn“ —— Und dann Mama ​3 es geht in solchen Fällen wie in der Kranckheit, in das ​4 Bett, aus dem Bett, und wieder hinein, man hofft, und verbessert seinen Zustand wenigstens den Augenblick der Veränderung. Der Brief an Kalckhoff ist gleich wie Sie ​5 ihn schickten, fort. /

So weit schrieb ​6 ich den 24. heut dℓ. 28 ten schick ich Ihnen beyde Briefe zurück. Danck vielen danck. O lassen Sie mich immer was von meinem Nachbaar ​7 Gorgias hören. Sie sollen auch dafür was hören mit der Zeit. Adieu.

Grüsen Sie Hℓ. v. Hohenfeld herzlich. Schreiben Sie mir wann und was Sie das Herz heisst. Adieu        G.

  1. Menschen,​?​ ↑
  2. is​ch​ ↑
  3. e​Mama​ ↑
  4. dem​as​ ↑
  5. s​Sie​ ↑
  6. ×​schrieb​ ↑
  7. Nachbe​aar​ ↑

Jahr und Monat ergeben sich aus dem Inhalt, u. a. aus dem Bezug zu Nr 145 vom 15. September 1774 (vgl. zu 116,23). Zwischen den beiden Tagen der Niederschrift des Briefes lag Goethes Aufenthalt in Langen (vgl. 118,6–7).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 10. – 1 Bl. 18,5 × 23 cm, 1 ½ S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben.

E: Frese (1877), 153 f., Nr 22 (nach h​c; vgl. Vorbemerkung in der Überlieferung zu Nr 47).

WA IV 2 (1887), 189 f., Nr 244.

Brief von Philipp Erasmus Reich und möglicherweise Brief von Wieland, beide an Sophie La Roche (vgl. zu 117,1–2).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Sophie La Roches (vgl. 116,4). – Vielleicht antwortete Sophie La Roche mit dem nicht überlieferten Brief, den Goethe mit Nr 145 erwidert.

braver Sohn] Brav: zeitgenössisch allgemein im Sinne von ,tüchtig‘.

Unsre Briefe] Nr 137 und der Bezugsbrief, der nicht überliefert ist.

Reichens Brief] Der Brief von Philipp Erasmus Reich an Sophie La Roche ist nicht überliefert; Reich hatte deren Roman „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ (Leipzig 1771) verlegt.

Dechant] Damian Friedrich Dumeiz, Dechant des St. Leonhardstifts in Frankfurt.

mag auch nicht mit ihm von der Max reden] Vermutlich, weil Dumeiz die Heirat von Sophie La Roches Tochter Maximiliane mit dem Frankfurter Kaufmann Peter Anton Brentano befürwortet hatte, während Goethe der Verbindung abgelehnd gegenüberstand. Sophie La Roche klagte immer wieder darüber, dass ihre Tochter unglücklich sei; vgl. auch zu 95,3.

hinab will] Vermutlich beabsichtigte Maximiliane Brentano, main- und rheinabwärts nach Ehrenbreitstein zu reisen.

Brief an Kalckhoff] Auf Goethes Wunsch (vgl. 113,22–23) hatte Sophie La Roche wahrscheinlich einen Empfehlungsbrief an Kalckhoff, den Sekretär des kurmainzischen Kanzlers Groschlag von Dieburg, geschrieben. Goethe wurde Groschlag bei dessen Besuch in Frankfurt im September vorgestellt (vgl. 130,21–25). Bei dem erwähnten Kalckhoff handelt es sich möglicherweise um Anton Moritz (Mauritius) Kalckhof(f), der zuletzt als Sekretär an der Wiener Reichshofkanzlei tätig war, zuvor – nach Notizen in der „Genealogischen Sammlung zu kurmainzischen Beamtenfamilien“ im Stadtarchiv Mainz – „i. Mainz 20 J. dem Kurf. gedient“ hatte (nach freundlicher Auskunft von Frank Teske, Stadtarchiv Mainz).

beyde Briefe] Der Brief von Reich (vgl. zu 116,15) und wohl ein Brief Wielands, in dem offenbar von Goethe die Rede war (vgl. zu 113,23–25), beide an Sophie La Roche gerichtet, sind nicht überliefert.

Nachbaar Gorgias] Gorgias ist eine Figur in Wielands satirischer Erzählung „Stilpon oder über die Wahl eines Oberzunftmeisters von Megara“, die im September-Heft 1774 des „Teutschen Merkur“ (7. Bd. 3. Stück, S. 295–337) erschien. Entweder lag dieser Band bereits vor, oder aber er erschien erst Ende September/Anfang Oktober (vgl. WB 6 III, 1342). Goethe könnte in diesem Fall durch Sophie La Roche von Wielands Schrift erfahren oder sie in einem Manuskript oder Vorabdruck kennen gelernt haben (vgl. auch Datierung zu Nr 144). In der Erzählung wird über die Kandidaten für die erste Stelle im Staate beratschlagt; es wird Gorgias gewählt, der „zugleich so dumm und so boshaft“ ist, „als ein und eben derselbe Mensch beydes zugleich seyn kann.“ (S. 336.) Gorgias lässt den Philosophen Stilpon aufgrund eines alten Gesetzes „gegen Müßiggänger, Sterngucker, Marktschreyer und Leute, die mit Murmelthieren im Lande herum“ ziehen (ebd.), aus Megara ausweisen. Unsicher ist, auf wen die Anspielung zielt. Bisher wurde angenommen, Goethe habe Gorgias mit Wieland, dessen Mitbürger und ‚Nachbarn‘ Stilpon mit sich selbst identifiziert (vgl. Goethe-La Roche, 68; DjG​2 6, 380, zu Nr 252; DjG​3 4, 378). Für diese Deutung spricht der Briefkontext: Goethe schickt einen an Sophie La Roche gerichteten Brief Wielands zurück und bittet um weitere Nachrichten über ihn. Auch die Opposition zwischen ‚Oberzunftmeister‘ und ‚Marktschreier‘ passt auf die Beziehung Wielands zu Goethe, wie dieser sie empfunden haben mag. Dagegen spricht jedoch, dass sich Goethes Verhältnis zu Wieland nach dessen Rezension des „Götz“ und der Anzeige von „Götter Helden und Wieland“ entspannt hatte (vgl. zu 76,14–15; zu 86,1–2). Auch wenn Goethe erfahren hatte, dass sich Wieland privat beleidigt über seine Satire zeigte (vgl. zu 89,21), ist nicht anzunehmen, dass er Sophie La Roche gegenüber Wieland durch den Vergleich mit Gorgias in so heftiger Weise persönlich diskredidiert hätte.

auch dafür was hören] Vielleicht: aus dem Hause Brentano (vgl. zu 116,17).

Hohenfeld] Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld, Freund und Kollege Georg Michael Anton La Roches.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 140 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR140_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 116–117, Nr 140 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 309–311, Nr 140 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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