Goethes Briefe: GB 2, Nr. 131
An Jacob Ludwig Passavant

〈Rheinreise oder Düsseldorf , etwa 23. Juli 1774〉 → 〈Frankfurt a. M.〉


Dem

Passavant-

und

Schüblerischen

Brautpaare


Die Geschwister

des Bräutigams


pp /


(vgl. Faksimile)


​Er fliegt hinweg, ​Dich zu umfangen, Und unsre Seele iauchzt ihm laut Mit innig heiserem Verlangen Flog​1 nie der Bräutigam zur Braut O Schwester, willst ​Du2 länger weilen Auf bring uns doppelt ​Ihn3 zurück Wir wollen alles mit ​Dir4 theilen Und unser Herz und unser Glück. /Die besten Eltern zu verlassen Die Freunde denen ​Du5 verschwindst Ist traurig. Doch um ​Dich6 zu fassen Bedencke was ​Du7 wiederfindst. ​Dein Glück o Freundin wird nicht minder, Und unsers wird durch​8 Dich vermehrt​9 Sieh ​dich erwarten muntre Kinder Die werthen Eltern Gott bescheert.
Komm zu dem täglich neuen Feste Wo warme Liebe sich ergiest Ringsum die Brüderlichen​10 Gäste da​11 eins des andern Glück geniest. Im langgehofften Sommerregen Reicht Gott dem früchtevollen Land Erquickung, tausendfältgen Seegen; Reich ​Du12 dem Bruder ​Deine13 Hand
Und mit der Hand ein künftig Glücke Für ​Ihn14 und ​Dich15 und uns zugleich; Dann werden iede Augenblicke An neuen Lebensfreuden reich. Ja es sind wonnevolle Schmerzen Was aus der Eltern Auge weint Sie sehen ​Dich mit warmem Herzen Mit ​Deiner16 Schwester neu vereint. /
Wie Freud und Tanz ​Ihn ​Dir ergeben Und Jugendwonne ​Euch verknüpft So seht einst ​Euer17 ganzes Leben Am schönen Abend hingeschlüpft. Und war das Band das ​Euch18 verbunden Gefühlvoll warm und heilig rein So lasst die letzte eurer Stunden Wie ​Eure erste heiter seyn.

(vgl. Faksimile)


Spat, doch nicht zu spät hoff ich. Grüsen Sie Passav. Und meinem Vater doch auch einige Exemplare dieses Carmens.

  1. f​Flog​ ↑
  2. d​D​u​ ↑
  3. ×​I​hn​ ↑
  4. d​D​ir​ ↑
  5. d​D​u​ ↑
  6. d​D​ich​ ↑
  7. d​D​u​ ↑
  8. n​durch​ ↑
  9. vermeht​rt​ ↑
  10. b​Brüderlichen​ ↑
  11. Wo​Da da​ ↑
  12. d​D​u​ ↑
  13. d​D​eine​ ↑
  14. i​I​hn​ ↑
  15. d​D​ich​ ↑
  16. d​D​einer​ ↑
  17. e​E​uer​ ↑
  18. e​E​uch​ ↑

Die Hochzeit Jacob Passavants, des ältesten Bruders des Adressaten, für den das Carmen (110,7) bestimmt war, fand am 25. Juli 1774 statt (vgl. zu 104,10–13). Die „Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ zeigen nur das Aufgebot vom 10. Juli 1774 an, nicht die Trauung, die wahrscheinlich außerhalb Frankfurts stattfand. Aus dem Wunsch, Johann Caspar Goethe einige Exemplare (110,7) des Gedichts zukommen zu lassen, geht hervor, dass sich Goethe zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht in Frankfurt befand. Er muss das Gedicht demnach auf seiner gemeinsam mit Lavater unternommenen Rheinreise, wahrscheinlich in Düsseldorf, geschrieben und abgeschickt haben. Da es nicht mehr rechtzeitig eintraf (vgl. die erste Erläuterung zu 110,6), kommt ein Datum um den 23. Juli 1774 in Frage, weil die Post von Düsseldorf nach Frankfurt gewöhnlich drei Tage unterwegs war (vgl. Datierung zu Nr 68).

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 12 745. – Doppelblatt 17,5 × 21,5 (–22) cm, 4 S. beschr., egh., Tinte. – Faksimile: Abb. 4–7 (S. 105–108).

E: Goethe's goldner Jubeltag, Siebenter November 1825. Mit des Gefeierten Bildniß, Seinen Schriftzügen, und einer Abbildung des Festsaales. 〈Hrsg. von Friedrich von Müller〉. Weimar 1826, S. 122 f., Nr XXIX (nach einer Abschrift Johann Friedrich Heinrich Schlossers, vgl. ebd., S. 43 f.; Abschrift Schlossers: GSA 25/W 16,7 Bl. 181–182).

WA I 4 (1891), 198–200 (Teildruck [Gedicht]; nach einer Abschrift Schlossers, vgl. E); WA I 5.2 (1910), 125 (Teildruck [Nachschrift]; nach einer Abschrift Schlossers, vgl. E; danach gedruckt in: WA IV 50 (1912), 210, Nr 234a).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Jacob Ludwig Passavant (1751–1827), ein Jugendfreund Goethes, entstammte einer wohlhabenden reformierten Kaufmannsfamilie, die, ursprünglich aus Frankreich kommend, Ende des 17. Jahrhunderts von Basel aus nach Frankfurt eingewandert war. Im Unterschied zu seinen Geschwistern folgte Passavant nicht der kaufmännischen Familientradition, sondern wandte sich dem theologischen Fach zu. Nach seinem Studium in Marburg und Göttingen war er etwa seit dem Frühjahr 1774 Amanuensis (Assistent) bei Johann Caspar Lavater in Zürich. Mit diesem reiste er im Juni 1774 nach Frankfurt, offenbar auch um an der Hochzeit seines älteren Bruders teilzunehmen. Vor Antritt der Rheinreise, zu der Goethe Ende Juni gemeinsam mit Lavater aufbrach, wird Passavant den Freund um das Hochzeitscarmen, das im vorliegenden Brief überschickt wurde, gebeten haben.

Passavant kehrte sehr wahrscheinlich Anfang August gemeinsam mit Lavater nach Zürich zurück (vgl. Goethe-Lavater​3, 318 f.). Goethe lässt ihn im Brief an Lavater aus der Zeit zwischen dem 13. und 15. August 1774 grüßen (vgl. 112,9–10). Im April 1775 wurde Passavant in Zürich ordiniert, blieb aber noch bis zum Oktober Lavaters Assistent. So traf Goethe ihn auf seiner Schweizer Reise im Juni 1775 und unternahm gemeinsam mit ihm eine Wanderung durch die Alpen zum Sankt Gotthard (vgl. zu 195,15–16). Die Erinnerung an dieses Wiedersehen verknüpft Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ mit einem knappen Porträt Passavants: Ein besonderes, zwar nicht unerwartetes, aber höchst erwünschtes Vergnügen empfing mich in Zürch, als ich meinen jungen Freund Passavant daselbst antraf. 〈…〉 Nicht von großer aber gewandter Gestalt, versprach sein Gesicht und sein ganzes Wesen eine anmuthige rasche Entschlossenheit; schwarzes Haar und Bart, lebhafte Augen, im ganzen eine theilnehmende mäßige Geschäftigkeit. (AA DuW 1, 608 [18. Buch].) Goethes Erinnerungen zufolge soll Passavant, der im Herbst 1775 aus Zürich zurückgekehrt war, der Einzige gewesen sein, den er von seiner bevorstehenden Abreise aus Frankfurt am 30. Oktober 1775 unterrichtete, weil er wirklich Ursache gehabt hätte zu zürnen, wenn ich unser inniges Vertrauen durch völlige Geheimhaltung verletzt hätte. (Ebd., 646 [20. Buch].) Im November 1775 trat Passavant eine Stelle als Pfarrverwalter bei der niederländisch-reformierten Gemeinde in Hamburg an; nach Zwischenstationen in Hannoversch Münden und Detmold kehrte er 1795 als Pfarrer der deutsch-reformierten Gemeinde nach Frankfurt zurück, wo er bis zu seinem Lebensende blieb (vgl. Hermann Dechent: Pfarrer Passavant, der Jugendfreund Goethes. 1751–1827. Nach handschriftlichen Aufzeichnungen. In: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Hrsg. von dem Verein für Geschichte und Althertumskunde zu Frankfurt am Main III 1 [1888], S. 20–54, bes. S. 35 f. und 43 f.).

Außer dem vorliegenden Gedicht mit den Begleitzeilen haben sich keine weiteren Briefe Goethes an den Adressaten erhalten. Auch Passavants Briefe an Goethe sind nicht überliefert. Dass es sie gegeben hat, belegt u. a. die folgende Bemerkung in Goethes Brief an Lavater vom 22. Dezember 1775: Von Passvt. hab ich liebe Briefe. (H: UB Leipzig, Slg Hirzel, B 60; vgl. WA IV 3, 6.) Auch in späterer Zeit hielt Goethe Kontakt zu dem Jugendfreund, den er im September und Oktober 1814 in Frankfurt besuchte (vgl. WA III 5, 133 und 134). In freundliche Erinnerung wurde Passavant bei Goethe noch einmal im Jahr 1825 gebracht, als ihm der gemeinsame Frankfurter Freund Johann Friedrich Heinrich Schlosser eine Abschrift des vorliegenden Gedichtes übersandte (vgl. die erste Erläuterung zu 110,6).

Passavant- und Schüblerischen Brautpaare] Jacob Passavant, der älteste Bruder des Adressaten, für den das Gelegenheitsgedicht bestimmt war, heiratete am 25. Juli 1774 Susanna Friederike Philippine Schübeler aus Mannheim (vgl. Datierung und Dechent: Pfarrer Passavant, der Jugendfreund Goethes, S. 29).

Die Geschwister des Bräutigams] Neben dem Adressaten selbst waren das der ältere Bruder Philipp Jacob, seit 1773 mit Eleonore Elisabethe de Bary verheiratet, sowie die beiden jüngeren Brüder Christian und Johann David Passavant.

Eltern] Der Kaufmann Johann Ludwig Passavant, Besitzer einer Wollwarenhandlung am Fahrtor, und dessen Ehefrau Maria Jacoba geb. Koch.

Im langgehofften Sommerregen] Möglicherweise ein Hinweis auf die Entstehung des Gedichts am 20. Juli 1774, als sich Goethe in Begleitung Johann Caspar Lavaters und Johann Bernhard Basedows auf der Rheinreise von Neuwied nach Düsseldorf befand. Lavater notierte in seinem Tagebuch: „Morgens nach 6 Uhr. Im Schiff unterm naßen Decktuch 〈…〉 neben Goethe 〈…〉.“ Ein Eintrag vom selben Tag zu späterer Stunde lautet: „Izt noch, u. bis izt regnets 〈…〉. Laß regnen wenn es regnen will, dem Wetter seinen Lauf. Denn wenn es nicht mehr regnen will so hörts von selber auf.“ (Goethe-Lavater​3, 311 und 313.)

Spat, doch nicht zu spät] Goethes Hoffnung, das Gedicht möge noch zur rechten Zeit ankommen, erfüllte sich nicht. Dies geht aus einer sehr viel später entstandenen Notiz hervor, die offenbar aus einem Brief Johann Friedrich Heinrich Schlossers an Friedrich von Müller (etwa von 1825) abgeschrieben wurde und mit einer Abschrift des Hochzeitsgedichts und der Begleitzeilen im GSA überliefert ist:
Hier eine, bis in Orthographie und Correcturen diplomatisch genaue Abschrift aus einer eigenhändigen Göthischen Urschrift, welche, von den in diesem Carmen Besungenen als ein Kleinod aufbewahrt, mir neulich zufällig zur Kunde gekommen und, um eine Abschrift davon zu nehmen, mitgetheilt worden ist. Das spät gekommene Carmen war für die Hochzeit (25 Jul. 1774) wirklich zu spät gekommen, und konnte damals von den Geschwistern des Bräutigams nicht mehr benutzt werden, daher es denn auch nie gedruckt wurde. Ein Bruder des Bräutigams, der jetzige Pfarrer Passavant, bewahrte das Original-Concept auf. Fünfzig Jahre später, bei der goldenen Hochzeit des noch jetzt lebenden Brautpaares, (25 Jul 1824) stellte ihnen der noch lebende Bruder das Original-Concept des noch lebenden Dichters, – das also doch nicht zu spät gekommen war, – zu Handen.
(Abschrift, Johann Christian Schuchardts Hd; GSA 25/W 400.) – Die an gleicher Stelle überlieferte Abschrift des vorliegenden Gedichts und der Begleitzeilen für Passavant basiert auf der erwähnten Abschrift Schlossers, die Goethe zum 50-jährigen Jubiläum seiner Ankunft in Weimar, am 7. November 1825, als Geschenk erhalten hatte (h: GSA 25/W 16,7, Bl. 181–182). Am 12. Dezember 1825 bedankte sich Goethe dafür bei Schlosser: Und so komme ich endlich dazu, auszusprechen, mein Theuerster, wie höchst angenehm mir die Sendung gewesen und welchen schönen Platz sie unter den reichen, mir gewidmeten Gaben, in diesen Stunden eingenommen. / Daß eine frühere, wie aus dem Gedicht selbst hervorgeht, extemporirte Freundlichkeit gegen meine ältesten Freunde sich so lange erhalten hat und nach so langer Zeit in einer übereinstimmenden Periode eigentlich erst zur Erscheinung kommt, ist gar merkwürdig und ich habe allerdings für die geneigte Mittheilung zu danken, welche sich auch hier einer allgemeinen Theilnahme zu erfreuen hatte. (H: FDH/FGM; WA IV 40, 170.)

Passav.] Wahrscheinlich Jacob Passavant, der Bruder des Adressaten.

Exemplare] Offenbar sind Druckexemplare des Hochzeitsgedichts nach der übersandten Handschrift gemeint, die jedoch nicht mehr angefertigt wurden, weil das Gedicht zu spät eintraf.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 131 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR131_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 104–110, Nr 131 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 286–289, Nr 131 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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