Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 159
Von Johann Kaspar Lavater

17. April 1782, Zürich

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Lieber Goethe.


   Ich habe einen jungen, stillen, viel-
wißenden, bescheidenen Menschen bey mir
im Hause, der das eigene Talent hat,
mit gehörlosen Kindern umzugehen –
mit dem ich einer vornehmen wackern
Familie, die diesen, gewiß nicht un-
edeln Jüngling aufnehmen könnte –
Freüde machen mögte. Du siehst auf
der zweyten Helfte dieses Blates, was
der Mensch kann. Auf sein Versprechen
darfst du sicher zählen. Er ist arm –
wohlgebildet – von etwas schwächlicher
Complexion, doch gesund – treü, und
gutmüthig.


Und nun auch von Tischbein ein Wort.
Er ist einer der Beßten Menschen,
der einen sehr feinen, intuitifen | 2 |
Sinn hat – Nicht eigentlich ein Denker,
aber sehr vernünftig im Urtheilen.
Satt und matt des Portraitmahlens um's
Geld, begierig, sich zu vervollkommnen,
studirte Er gern noch Ein oder Zwey
Jahre, reisete so lange noch gern in
Frankreich und vielleicht noch einmahl
in Italien – So dann wärs Ihm lieb
bey Menschen und Fürsten, wie nur
Weymar hat, die Hälfte seiner Zeit
dem Fürsten – die übrige für sich und
andere zu arbeiten. Er ist ein Mensch
dem man alles sagen darf – der
deine Süperiorität gern benutzen
und Geschichten der Deütschen mah-
len mögte. Seiner Gemählde Cha-
rackter ist Ruhe, Heiterkeit, Ge- | 3 |
schmack. – Er hält das Mittel zwischen
Haarscharfer Zeichnung und unbe-
stimmter Genialischer hageley.
Alle seine Gemählde machen Effekt.
Seine Sitten sind sanftheit und Be-
scheidenheit. Ich empfehle nicht. Er
fragte mich darüber – da fand ich's
natürlich, bey dieser Gelegenheit
dieß wahre, unbefangene Zeügniß
abzulegen. Adieü!


   
    Lavater.


S: Zentralbibliothek Zürich  D: GL Nr. 113  B: -  A: -  V: Abschrift 

Empfehlung des Taubstummenlehrers Ulrich. - Empfehlende Charakterisierung W. Tischbeins, dem es lieb wäre, bey Menschen und Fürsten, wie nur Weymar hat, die Hälfte seiner Zeit dem Fürsten - die übrige für sich und andere zu arbeiten.

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Lieber Goethe.

  Ich habe einen jungen, stillen, vielwißenden, bescheidenen Menschen bey mir im Hause, der das eigene Talent hat, mit gehörlosen Kindern umzugehen – mit dem ich einer vornehmen wackern Familie, die diesen, gewiß nicht unedeln Jüngling aufnehmen könnte – Freüde machen mögte. Du siehst auf der zweyten Helfte dieses Blates, was der Mensch kann. Auf sein Versprechen darfst du sicher zählen. Er ist arm – wohlgebildet – von etwas schwächlicher Complexion, doch gesund – treü, und gutmüthig.

 Und nun auch von Tischbein ein Wort. Er ist einer der Beßten Menschen, der einen sehr feinen, intuitifen| 2 | Sinn hat – Nicht eigentlich ein Denker, aber sehr vernünftig im Urtheilen. Satt und matt des Portraitmahlens um's Geld, begierig, sich zu vervollkommnen, studirte Er gern noch Ein oder Zwey Jahre, reisete so lange noch gern in Frankreich und vielleicht noch einmahl in Italien – So dann wärs Ihm lieb bey Menschen und Fürsten, wie nur Weymar hat, die Hälfte seiner Zeit dem Fürsten – die übrige für sich und andere zu arbeiten. Er ist ein Mensch dem man alles sagen darf – der deine Süperiorität gern benutzen und Geschichten der Deütschen mahlen mögte. Seiner Gemählde Charackter ist Ruhe, Heiterkeit, Ge| 3 |schmack. – Er hält das Mittel zwischen Haarscharfer Zeichnung und unbestimmter Genialischer hageley. Alle seine Gemählde machen Effekt. Seine Sitten sind sanftheit und Bescheidenheit. Ich empfehle nicht. Er fragte mich darüber – da fand ich's natürlich, bey dieser Gelegenheit dieß wahre, unbefangene Zeügniß abzulegen. Adieü!

    Lavater.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 159, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0159_00173.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 159.

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