Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 102
Von Johann Kaspar Lavater

22. Oktober 1779, Zürich

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Also, bono cum Deo, reiset weiter, ihr
Götter, Helden, und Philipps' bis Ihr her-
ein trabet durch die Pforten von Zürich,
und irgend ein krummer Wächter Euch fragt:
"Wer sind ihr?" ...


Dank Lieber, daß du mir wieder ein Le-
benszeichen gabst und mir sagtest wo Du bist.
Es wunderte und plangte mich. Nun bin ich
ruhig und will die Stunde abwarten. Alle-
mal weiß ich, daß Du mich wieder eine Stu-
fe höher heben und einen neuen Lebensfun-
ken in mir entschlagen wirst.


   Sinne doch auch recht darauf, daß dieß süße
Wiedersehen uns recht zur Freude werde.
Ich weiß wohl, das Beßte muß sich selbst
geben, aber es liegt doch so viel am Ein-
richten und Zeiteintheilen.


   Wie glühende Kohlen unter meinen Füßen
war vorgestern meines Pfarrers Wort –
"Die andre Woche Stillstand und die Examina!" | 2 |
Guter Gott! wie hart gieng's von der Lippe das
"So?" Nun, – ist's mir ganz recht, daß
Ihr noch in Genf seyt. Mag's Toblern so
herzlich wol gönnen.


Was ich abthun und wegarbeiten kann, ist
freylich wenig. Doch will ich, was ich kann.
Daß Du mir noch vor Deiner Ankunft schrei
ben willst, macht mir herzwol.


   Du darfst mir alles sagen, aber glaube
mir Lieber, mir kömmt kein Sinn daran –
"dem Löwen die Tatze zu bieten! Ich bin
mit meiner Hauskaterschaft ganz wol zu-
frieden, und wenn ich werth wär'etwas zu
wünschen, so wär's – nur, daß – Einer sich
nicht schämte mich Bruder zu nennen!" Sonst
hast Du in gewißem Sinn völlig recht; und
als ich Deinen lieben Brief erhielt – corrigirt'
ich eben ein Liedchen über's V. Gebott, wo
eine Strophe sagt –

   "Du seegnest jeden, der sich gern    Der Herrschaft unterziehet; | 3 |    Dem Lehrer folgt; in jedem Herrn    Den Herrn der Herren siehet.    Dein Wille, Gott, verhüllet sich    In Menschenwillen! Dich, nur Dich    Ehrt wer die Höhern ehret."


Nichtachtung der wahren ewigen Verhält-
niße von Menschen zu Menschen ist mir ein
entscheidend Zeichen eines dummen und unleid-
lichen Stolzes. Das war's doch aber, denk'
ich, an dem enfantilenJung nicht?


Noch nichts ist mir für Dich eingegangen.
Kirchberger ist wol mit Dir zufrieden –
Dein "Wetterleuchten" war ihm fruchtbar,
und wird's, hoff ich auch mir seyn? und du
wirst Geduld haben, und wegschaben, wenn
der "Käse" schimmligt ist, den Du nun 4.
Jahre unversucht ließest.


   Adieu – Herzlieber! Heil Euern Pferden
und Euch! Heil allen die Euch sich seyn laßen,
was Ihr ihnen seyn wollt! Heil also auch mir!
Amen!

   


Deine Reisroute, wenn Du noch säumst, melde
mir doch.


S: Zentralbibliothek Zürich  D: GL Nr. 63  B: 1779 Oktober 17 (WA IV 4, Nr. 856)  A: 1779 Oktober 28 bis 29 (WA IV 4, Nr. 859); 1779 November 2 (WA IV 4, Nr. 861); 1779 November 14 (WA IV 4, Nr. 864)  V: Abschrift 

Dank für G.s Lebenszeichen und die Ankündigung, vor seiner Ankunft schreiben zu wollen. Sinne doch auch recht darauf, daß dieß süße Wiedersehen uns recht zur Freude werde. L. gönne es G. C. Tobler, daß G. noch in Genf sei. Entgegnung auf eine Anspielung G.s: [...] mir kömmt kein Sinn daran, - ,dem Löwen die Tatze zu bieten! [...] und wenn ich werth wär' etwas zu wünschen, so wär's - nur, daß - Einer sich nicht schämte mich Bruder zu nennen!' Anfrage, ob H. J. Jung eine Nichtachtung des fünften christlichen Gebots vorzuwerfen sei. - Für G. sei keine Post eingegangen. - Auf N. A. Kirchberger habe G. Eindruck gemacht.

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 Also, bono cum Deo, reiset weiter, ihr Götter, Helden, und Philipps' bis Ihr herein trabet durch die Pforten von Zürich, und irgend ein krummer Wächter Euch fragt: "Wer sind ihr?" ...

 Dank Lieber, daß du mir wieder ein Lebenszeichen gabst und mir sagtest wo Du bist. Es wunderte und plangte mich. Nun bin ich ruhig und will die Stunde abwarten. Allemal weiß ich, daß Du mich wieder eine Stufe höher heben und einen neuen Lebensfunken in mir entschlagen wirst.

  Sinne doch auch recht darauf, daß dieß süße Wiedersehen uns recht zur Freude werde. Ich weiß wohl, das Beßte muß sich selbst geben, aber es liegt doch so viel am Einrichten und Zeiteintheilen.

  Wie glühende Kohlen unter meinen Füßen war vorgestern meines Pfarrers Wort – "Die andre Woche Stillstand und die Examina!"| 2 | Guter Gott! wie hart gieng's von der Lippe das "So?" Nun, – ist's mir ganz recht, daß Ihr noch in Genf seyt. Mag's Toblern so herzlich wol gönnen.

 Was ich abthun und wegarbeiten kann, ist freylich wenig. Doch will ich, was ich kann. Daß Du mir noch vor Deiner Ankunft schrei ben willst, macht mir herzwol.

  Du darfst mir alles sagen, aber glaube mir Lieber, mir kömmt kein Sinn daran – "dem Löwen die Tatze zu bieten! Ich bin mit meiner Hauskaterschaft ganz wol zufrieden, und wenn ich werth wär'etwas zu wünschen, so wär's – nur, daß – Einer sich nicht schämte mich Bruder zu nennen!" Sonst hast Du in gewißem Sinn völlig recht; und als ich Deinen lieben Brief erhielt – corrigirt' ich eben ein Liedchen über's V. Gebott, wo eine Strophe sagt –

 "Du seegnest jeden, der sich gern  Der Herrschaft unterziehet;| 3 |  Dem Lehrer folgt; in jedem Herrn  Den Herrn der Herren siehet.  Dein Wille, Gott, verhüllet sich  In Menschenwillen! Dich, nur Dich  Ehrt wer die Höhern ehret."

 Nichtachtung der wahren ewigen Verhältniße von Menschen zu Menschen ist mir ein entscheidend Zeichen eines dummen und unleidlichen Stolzes. Das war's doch aber, denk' ich, an dem enfantilenJung nicht?

 Noch nichts ist mir für Dich eingegangen. Kirchberger ist wol mit Dir zufrieden – Dein "Wetterleuchten" war ihm fruchtbar, und wird's, hoff ich auch mir seyn? und du wirst Geduld haben, und wegschaben, wenn der "Käse" schimmligt ist, den Du nun 4. Jahre unversucht ließest.

 Adieu – Herzlieber! Heil Euern Pferden und Euch! Heil allen die Euch sich seyn laßen, was Ihr ihnen seyn wollt! Heil also auch mir! Amen!  

 Deine Reisroute, wenn Du noch säumst, melde mir doch.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 102, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0102_00114.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 102.

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