Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 99
Von Friedrich Heinrich Jacobi

15. September 1779, Pempelfort

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Du sollst in Ettersburg, in einer Gesellschaft von Rittern,
Woldemar und seinen Verfaßer auf die entsetzlichste Weise
durchgezogen, lächerlich gemacht, und zum Beschluß, – mit
einem schön eingebundenen Exemplar dieses Buchs, eine schimpf-
liche und schändliche Execution vorgenommen haben. – Dies
Gerücht ist so allgemein geworden, daß es auch mir end-
lich zu Ohren kommen mußte. Verschiedene meiner hie-
sigen Freunde hatten es schon vor vier Wochen gewußt,
und allerhand Mittel angewandt, daß es mir verborgen blei-
ben möchte.


   Nun schreibe ich Dir, um zu erfahren, was an der
Sache ist.


   Du schriebst mir im April 1775, "Friederice Fritzel wie
ist Dir! O Du Menschenkind – steht nicht geschrieben: so | 2 |
ihr glaubtet, hättet ihr das ewige Leben! und Du wähn-
test manchmahl, der Sinn dieser Worte sey in Deiner
Seele aufgegangen. Sey's nun – geringer kann ich's
nicht thun - Deine Liebe wag ich dran – sonst wär ich
der heiligen Thränen nicht werth, die Du in Cölln an
mein Herz weintest. – Lieber Fritz besinne Dich –
es ist nicht Stella, nicht Prometheus – besinne Dich, und
noch einmal: gieb mir Stella zurück! – Wenn Du
wüßtest wie ich sie liebe, und um Deinetwillen liebe! –
– – – und das muß ich Dir all so ruhig schrei-
ben um Deines Unglaubens willen, der ich lieber mein
Herz ergöße – " Dein Vorwurf damahls war unge-
gründet, den Glauben an Dich hatt' ich nicht verletzt; ich
allein nicht, so viel ich weiß, unter allen Deinen Freun-
den.


   Hätte mir zu jener Zeit ein solches Gerücht wie das
jetzige zu Ohren kommen können; angespieen hätte ich
den, der es geglaubt hätte.

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   Aber seit jenen sind viel andre Tage gekommen.


   Ich brauche Dir Dein Verhalten gegen mich nicht zu
erzehlen. Du weißt was ich erwarten konnte, erwarten
mußte, und was alles nicht geschehen ist.


   Je mehr ich hin und her sinne und mein Gedächtniß er-
wacht; je tiefer ich, alles zusammen nehmend, erwäge, desto
unwiderstehlicher wird der Gedanke bey mir, daß sie Sache
wovon die Rede ist, wenigstens eine mögliche Sache sey. Und
das wäre vielleicht genug um mein Herz von Dir zu schei-
den. Aber nach jenen Stunden, nach jenen Tagen die ge-
wesen sind – – laß, ich will kalt bleiben.


   Da ich also wenigstens fragen muß, so muß ich auch
noch folgendes hinzufügen.


   Es ist hier nicht von dem Buche Woldemar die Rede und
von dem Interesse das ich als Schriftsteller daran nehme.


   Wenn meine Kinder leben, schriebst Du mir einmahl, so
werden sie schon fortkrabeln unter diesem weiten Himmel; | 4 |
und von Woldemar weiß ich daß er Lebens die Fülle hat.
Auch wegen Deines privaten Urtheils bin ich unbekümmert:
denn ich weiß was Du fühlen kannst, und was Woldemar
enthält, weiß, so gewiß ich mit diesen meinen Augen
sehe, und mit dieser meiner Hand schreibe, daß Du dem
Verfaßer Deine Hochachtung, ja, (es mag so stolz klin-
gen als es will) in manchem Betracht, auch Deine Be-
wunderung so gar nicht versagen kannst. Was wegen
einiger Ungeschicklichkeiten in der Compostion und dem
sich zuwiderlaufenden in unserer Sinnes Art hievon ab-
zurechnen ist, habe ich zum Voraus wenigstens auf seinen
wahren Ertrag angeschlagen. Also von diesem allen ist
nicht die Rede, sondern davon – was Du von selber
genug begreifst, und ich mir also die Quaal ersparen
kann, erst lange auseinander zu setzen.


   Was die gehäßige Beschuldigung angeht, ich hätte im
Woldemar mich selbst vergöttern und zur öffentlichen | 5 |
Anbetung aufstellen wollen, so müßte es mich freylich
unendlich schmerzen, wenn Du sie ausgerufen hättest,
und zwar, indem Du Deinen Mund auf das abscheulichste
Sprachrohr drücktest. Ich dächte aber du müßtest Dich
erinnern, wie viel geneigter ich bin den ersten besten
Klotz, als mich selber anzubeten; genug, auch Dir nicht
unbekannte Facta sind vorhanden, welche unwidersprechlich dar-
thun, daß mir hundert Dinge lieber und heiliger sind,
als mein werthes Selbst. Leute welche die rasendsten
Ungereimtheiten zusammen reimen und glauben können,
und einige andre, von Cains Unmuth, die aber noch nicht
sein Zeichen an der Stirne tragen, mögen ihre Ohren
weit aufthun, flüstern und schreien, und die Zunge ge-
gen mich aus dem Halse strecken, das muß ich leiden.
Von den beßern Menschen aber wird keiner den Verfaßer
von Woldemar, für einen solchen sinnlosen Thoren halten.
Viele kennen mich persönlich, und bald wird sich die Anzahl | 6 |
dieser noch um ein merkliches vermehren.


   Ich wollte noch einer Ader erwähnen, die durch den
ganzen Woldemar geht, und wenigstens in dem bekanntge-
machten Stück aus dem 2ten Theil schon sehr sichtbar ist, die
nur aus einem Herzen voll Verläugnung, voll unpartheischer
Liebe zu allen Guten, voll unpartheyischen siegenden Haßes
gegen alles Böse, aus einem Herzen voll Buße, voll Glauben,
voll inningerDemuth fließen konnte. – Aber mein
Brief ist ohne das schon viel zu lang, und Du hast ihn, ehe
Du an diese Stelle kommst, wohl schon vor Eckel unter den
Tisch geworfen. Schwerlich wirst Du Lust haben darauf zu
antworten, und so wird Dein Stillschweigen, nach verfloße-
nen 3 Wochen mir Antwort genug seyn.


S: GSA 51/II,2 St. 13 (Abschrift von J. H. Schenk)  D: JacobiI 2, Nr. 519  B: 1775 April (WA IV 7, Nr. 327a; 3, 326f.); 1774 August 21 (WA IV 2, Nr. 243)  A: 1782 Oktober 2 (WA IV 6, Nr. 1584) 

Du sollst in Ettersburg, in einer Gesellschaft von Rittern, Woldemar und seinen Verfaßer auf die entsetzlichste Weise durchgezogen, lächerlich gemacht, und zum Beschluß, - mit einem schön eingebundenen Exemplar dieses Buchs, eine schimpfliche und schändliche Execution vorgenommen haben. - Dies Gerücht ist so allgemein geworden, daß es auch mir endlich zu Ohren kommen mußte. J. schreibt an G., um zu erfahren, was an der Sache ist. G.s Vorwurf in einem Brief vom April 1775, daß J. den Glauben an ihn verletzt habe, sei unbegründet gewesen, dagegen müsse J. das Ettersburger Ereignis für eine mögliche Sache halten. Und das wäre vielleicht genug um mein Herz von dir zu scheiden. J. glaube jedoch, daß G. dem Roman "Woldemar" (1779) Hochachtung, ja Bewunderung nicht versagen könne, trotz einiger Ungeschicklichkeiten in der Composition und dem sich zuwiderlaufenden in unserer Sinnes Art. J. weist die Anschuldigung zurück, er habe sich im Woldemar [...] selbst vergöttern und zur öffentlichen Anbetung aufstellen wollen. - Wenn G. den Brief nicht beantworte, sei nach verfloßenen 3 Wochen das Schweigen Antwort genug.

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 Du sollst in Ettersburg, in einer Gesellschaft von Rittern, Woldemar und seinen Verfaßer auf die entsetzlichste Weise durchgezogen, lächerlich gemacht, und zum Beschluß, – mit einem schön eingebundenen Exemplar dieses Buchs, eine schimpfliche und schändliche Execution vorgenommen haben. – Dies Gerücht ist so allgemein geworden, daß es auch mir endlich zu Ohren kommen mußte. Verschiedene meiner hiesigen Freunde hatten es schon vor vier Wochen gewußt, und allerhand Mittel angewandt, daß es mir verborgen bleiben möchte.

  Nun schreibe ich Dir, um zu erfahren, was an der Sache ist.

  Du schriebst mir im April 1775, "Friederice Fritzel wie ist Dir! O Du Menschenkind – steht nicht geschrieben: so| 2 | ihr glaubtet, hättet ihr das ewige Leben! und Du wähntest manchmahl, der Sinn dieser Worte sey in Deiner Seele aufgegangen. Sey's nun – geringer kann ich's nicht thun - Deine Liebe wag ich dran – sonst wär ich der heiligen Thränen nicht werth, die Du in Cölln an mein Herz weintest. – Lieber Fritz besinne Dich – es ist nicht Stella, nicht Prometheus – besinne Dich, und noch einmal: gieb mir Stella zurück! – Wenn Du wüßtest wie ich sie liebe, und um Deinetwillen liebe! – – – – und das muß ich Dir all so ruhig schreiben um Deines Unglaubens willen, der ich lieber mein Herz ergöße – " Dein Vorwurf damahls war ungegründet, den Glauben an Dich hatt' ich nicht verletzt; ich allein nicht, so viel ich weiß, unter allen Deinen Freunden.

  Hätte mir zu jener Zeit ein solches Gerücht wie das jetzige zu Ohren kommen können; angespieen hätte ich den, der es geglaubt hätte.

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  Aber seit jenen sind viel andre Tage gekommen.

  Ich brauche Dir Dein Verhalten gegen mich nicht zu erzehlen. Du weißt was ich erwarten konnte, erwarten mußte, und was alles nicht geschehen ist.

  Je mehr ich hin und her sinne und mein Gedächtniß erwacht; je tiefer ich, alles zusammen nehmend, erwäge, desto unwiderstehlicher wird der Gedanke bey mir, daß sie Sache wovon die Rede ist, wenigstens eine mögliche Sache sey. Und das wäre vielleicht genug um mein Herz von Dir zu scheiden. Aber nach jenen Stunden, nach jenen Tagen die gewesen sind – – laß, ich will kalt bleiben.

  Da ich also wenigstens fragen muß, so muß ich auch noch folgendes hinzufügen.

  Es ist hier nicht von dem Buche Woldemar die Rede und von dem Interesse das ich als Schriftsteller daran nehme.

  Wenn meine Kinder leben, schriebst Du mir einmahl, so werden sie schon fortkrabeln unter diesem weiten Himmel;| 4 | und von Woldemar weiß ich daß er Lebens die Fülle hat. Auch wegen Deines privaten Urtheils bin ich unbekümmert: denn ich weiß was Du fühlen kannst, und was Woldemar enthält, weiß, so gewiß ich mit diesen meinen Augen sehe, und mit dieser meiner Hand schreibe, daß Du dem Verfaßer Deine Hochachtung, ja, (es mag so stolz klingen als es will) in manchem Betracht, auch Deine Bewunderung so gar nicht versagen kannst. Was wegen einiger Ungeschicklichkeiten in der Compostion und dem sich zuwiderlaufenden in unserer Sinnes Art hievon abzurechnen ist, habe ich zum Voraus wenigstens auf seinen wahren Ertrag angeschlagen. Also von diesem allen ist nicht die Rede, sondern davon – was Du von selber genug begreifst, und ich mir also die Quaal ersparen kann, erst lange auseinander zu setzen.

  Was die gehäßige Beschuldigung angeht, ich hätte im Woldemar mich selbst vergöttern und zur öffentlichen| 5 | Anbetung aufstellen wollen, so müßte es mich freylich unendlich schmerzen, wenn Du sie ausgerufen hättest, und zwar, indem Du Deinen Mund auf das abscheulichste Sprachrohr drücktest. Ich dächte aber du müßtest Dich erinnern, wie viel geneigter ich bin den ersten besten Klotz, als mich selber anzubeten; genug, auch Dir nicht unbekannte Facta sind vorhanden, welche unwidersprechlich darthun, daß mir hundert Dinge lieber und heiliger sind, als mein werthes Selbst. Leute welche die rasendsten Ungereimtheiten zusammen reimen und glauben können, und einige andre, von Cains Unmuth, die aber noch nicht sein Zeichen an der Stirne tragen, mögen ihre Ohren weit aufthun, flüstern und schreien, und die Zunge gegen mich aus dem Halse strecken, das muß ich leiden. Von den beßern Menschen aber wird keiner den Verfaßer von Woldemar, für einen solchen sinnlosen Thoren halten. Viele kennen mich persönlich, und bald wird sich die Anzahl| 6 | dieser noch um ein merkliches vermehren.

  Ich wollte noch einer Ader erwähnen, die durch den ganzen Woldemar geht, und wenigstens in dem bekanntgemachten Stück aus dem 2ten Theil schon sehr sichtbar ist, die nur aus einem Herzen voll Verläugnung, voll unpartheischer Liebe zu allen Guten, voll unpartheyischen siegenden Haßes gegen alles Böse, aus einem Herzen voll Buße, voll Glauben, voll inningerDemuth fließen konnte. – Aber mein Brief ist ohne das schon viel zu lang, und Du hast ihn, ehe Du an diese Stelle kommst, wohl schon vor Eckel unter den Tisch geworfen. Schwerlich wirst Du Lust haben darauf zu antworten, und so wird Dein Stillschweigen, nach verfloßenen 3 Wochen mir Antwort genug seyn.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 99, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0099_00111.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 99.

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