Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 54
Von Johann Kaspar Lavater

1. September 1775, Zürich

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Lieber!


   Dank für alle Worte, die du mir
sandtest –


Ich harre diesen Abend auf Brief u: Sachen
von dir. Izt hab' ich ein Viertelstündchen,
wo ich mich meiner Aufträge an dich ent-
laden muß.


Liebster, du kannst nicht denken, in wel-
chem Gedräng' ich die Zeit her war. Im-
mer Fremde; Nie war ich meiner selbst.
Nun hoff' ich, sey ich's mehr. Doch erwart'
ich heüte, Morgen oder Übermorgen Zim-
mermann mit seiner Engels Tochter; Al-
so, damit auch dieß noch vorher abgeladℓ
sey, einige Bitten u: Nachrichten an Dich.


a.) Ein Büchelgen mit Texten will ich
dir nach dem Bethtage senden.


b.) Ich denke, mein Lieber, fast über das
XVII. Cap: Johannis zupredigen. Unaus- | 2 |
sprechlich würdest du mich verbinden, wenn
du mir mit nächster Post allgemeine u:
besondere Ideen – kurz, was dir immer
über Materie u: Form dießfalls bey-
fiele – mittheiltest. Welche ganze Religi-
on in diesem Capitel! Auf diese Ganzheit
bitt' ich dich besonders dein Aug zurichtℓ.


c.) Ich habe bereits am II. Bande der Phy-
siognomik angefangen; Muß sehr viel,
viel Tafeln unter die Rubrik von Ma-
nier, von Charakterisirung des Künstlers
p bringen – um aller oder vieler halb-
entbehrlicher Tafel auf einmal los zu-
werden.


d.) Nenne du mir, liebster, Bester, die
Hauptabhandlungen, die du machen
willst; u: die du von mir gemacht wün-
schest.


e.) Die Spezial Fragmente über Kupfer,
die du dir wählen willst.

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f.) Ich glaube, wir wollen manche Thier
Tafeln vertheilen, u: zwischen hinein-
schieben, da u: dort.


g.) Eine ToleranzPredigt gegen alle
menschliche Gesichter steht gewiß im An-
fang recht gut. – Du kannst nicht glaubℓ,
wie ich Lust u: Muth zur Fortsetzung
habe, nur weiß ich nicht, was ich all
nicht sagen soll.


Und nun, mein Lieber, zu einem II.
Punkt ....


Ich habe dir durch Pestaluzen, einen
ganz originellen Mann – (der aber vor-
dem, wenigstens einer meiner laute-
sten Belacher war, u: izt noch mit mei-
nen geschwornen Feinden täglich ver
trauten Umgang pflegt) meinen Abra-
ham (offen) geschickt. Du wirst ihn we-
nige Tage nach Empfang dieses erhaltℓ.
Thue mir die Liebe an, du Lieber, dieß | 4 |
Stük, eins der ausgearbeitesten, das ich je
gemacht, in einer guten lieben Bruder-
stunde durchzugehen, u: mit Geist, Glaubℓ,
Kraft zuwürzen. Streiche durch, setze zu,
ändere – wie u: was du willst. Ich opfere
ihn dir auf. Mach's mit ihm, wie's dir
gefällt. Aber laß dir's, Bruder, sehr an-
gelegen seyn, du verdienst das ewige
Leben darmit. Frau Schultheß bittet dich
auch in ihrem Namen ausdrücklich um
diesen Brüder Dienst. Aber die Meß' ist nahe.
Ich kann u: mag dir nichts dagegen versprechℓ,
als: "Wenn Füßli kommt, wie er mir große
Hofnung gemacht, daß er besonders was
für dich zeichnen soll."


   =


Vor einigen Tagen war der Herzog von
Würtemberg bey uns. Ich zeigt' ihm das
WaysenHaus, u: beobachtet' ihn sehr. Die
Originellste oder schönste Mannsbildung,
die glüklichste Vermischung von Majestät | 5 |
und Huld – lauter Herzoglichkeit; Uner-
schöpfliche SeminalKraft! unersättliche
Eitelkeit! Adlersblick! Heldengang! Wür-
kungsglut! Reflektirendes, vergleichen-
des Selbstgefühl! – Tod u: Leben! Himmel
u: Hölle!


   =


Die beyden Prinzen von Sachsen Mey-
nung – freylich neben dem Herzog ver-
lieren sie sehr im äußern! Ich sahe sie
neben einander; Aber, daß Sie so für
dich eingenommen waren, dich so sehr wie-
der zusehen wünschen; daß Sie so auf gu-
tes u: gute ausgehen – p – machte mir
sie dennoch viel lieber, als den majestä-
tischen Herzog.


   =


Meine Frau u: mein Knabe ziemlich
wohl. Pfenninger noch immer im Bad.
Mitte Septembers tritt er sein Amt
an. Häfeli grüßt dich, alles grüßt dich. | 6 |
Hab' Geduld mit mir – ich will dir al-
les bezahlen. Womit? mit – ewigem
Glauben. – Apropos – Hast Menschℓ,
Thier u: Goethe, u: was der Esel von mir
sagt, gesehen? – Adieü. Kocht auch
wieder was wider mich, sagt man. Red
auch ein treflich Worte mit Pestaluzℓ,
bitte, bitte.


   
    J. C. L.


S: Zentralbibliothek Zürich  D: GL Nr. 35  B?: 1775 August 3 bis 4 (WA IV 2, Nr. 344); 1775 August 8 (vgl. 3, 314)  A?: 1775 September (WA IV 2, Nr. 354); 1775 September 5 (vgl. 3, 314)  V: Abschrift 

Klage über die vielen Besuche Fremder. Der Besuch von J. G. Zimmermann und dessen Tochter Katherine stehe bevor. - Ein Büchelgen mit Texten wolle L. nach dem Bethtage senden. L. gedenke, über das XVII. Cap. Johannis zupredigen; Bitte um G.s allgemeine u. besondere Ideen dazu. - Der 2. Band der Physiognomik sei angefangen. G. möge die von ihm selbst und die von L. zu bearbeitenden Abhandlungen benennen. Vorschlag, manche Thier Tafeln einzufügen und eine Toleranz Predigt ("Trefflichkeit aller Menschengestalten", in: III. Fragment des 2. Versuches) an den Anfang zu stellen. - G. erhalte durch Pestaluzen, einen ganz originellen Mann - ([...] vordem [...] einer meiner lautesten Belacher [...]), L.s Drama "Abraham und Isaak", um dessen eingehende Korrektur L. und B. Schultheß inständigst bäten. Dafür solle J. H. Füßli etwas für G. zeichnen. - Über Herzog Karl Eugen von Württemberg und die Prinzen Karl August und Georg Friedrich von Sachsen-Meiningen. - L.s Frau und Sohn David seien ziemlich wohl. Grüße von J. K. Häfeli. - Anfrage, ob G. J. J. Hottingers "Menschen, Tiere und Goethe, eine Farce" (1775) und das, was der Esel von mir sagt, gesehen habe.

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Lieber!

  Dank für alle Worte, die du mir sandtest –

 Ich harre diesen Abend auf Brief u: Sachen von dir. Izt hab' ich ein Viertelstündchen, wo ich mich meiner Aufträge an dich entladen muß.

 Liebster, du kannst nicht denken, in welchem Gedräng' ich die Zeit her war. Immer Fremde; Nie war ich meiner selbst. Nun hoff' ich, sey ich's mehr. Doch erwart' ich heüte, Morgen oder Übermorgen Zimmermann mit seiner Engels Tochter; Also, damit auch dieß noch vorher abgeladℓ sey, einige Bitten u: Nachrichten an Dich.

 a.) Ein Büchelgen mit Texten will ich dir nach dem Bethtage senden.

 b.) Ich denke, mein Lieber, fast über das XVII. Cap: Johannis zupredigen. Unaus| 2 |sprechlich würdest du mich verbinden, wenn du mir mit nächster Post allgemeine u: besondere Ideen – kurz, was dir immer über Materie u: Form dießfalls beyfiele – mittheiltest. Welche ganze Religion in diesem Capitel! Auf diese Ganzheit bitt' ich dich besonders dein Aug zurichtℓ.

 c.) Ich habe bereits am II. Bande der Physiognomik angefangen; Muß sehr viel, viel Tafeln unter die Rubrik von Manier, von Charakterisirung des Künstlers p bringen – um aller oder vieler halbentbehrlicher Tafel auf einmal los zuwerden.

 d.) Nenne du mir, liebster, Bester, die Hauptabhandlungen, die du machen willst; u: die du von mir gemacht wünschest.

 e.) Die Spezial Fragmente über Kupfer, die du dir wählen willst.

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 f.) Ich glaube, wir wollen manche Thier Tafeln vertheilen, u: zwischen hineinschieben, da u: dort.

 g.) Eine ToleranzPredigt gegen alle menschliche Gesichter steht gewiß im Anfang recht gut. – Du kannst nicht glaubℓ, wie ich Lust u: Muth zur Fortsetzung habe, nur weiß ich nicht, was ich all nicht sagen soll.

 Und nun, mein Lieber, zu einem II. Punkt ....

 Ich habe dir durch Pestaluzen, einen ganz originellen Mann – (der aber vordem, wenigstens einer meiner lautesten Belacher war, u: izt noch mit meinen geschwornen Feinden täglich ver trauten Umgang pflegt) meinen Abraham (offen) geschickt. Du wirst ihn wenige Tage nach Empfang dieses erhaltℓ. Thue mir die Liebe an, du Lieber, dieß| 4 | Stük, eins der ausgearbeitesten, das ich je gemacht, in einer guten lieben Bruderstunde durchzugehen, u: mit Geist, Glaubℓ, Kraft zuwürzen. Streiche durch, setze zu, ändere – wie u: was du willst. Ich opfere ihn dir auf. Mach's mit ihm, wie's dir gefällt. Aber laß dir's, Bruder, sehr angelegen seyn, du verdienst das ewige Leben darmit. Frau Schultheß bittet dich auch in ihrem Namen ausdrücklich um diesen Brüder Dienst. Aber die Meß' ist nahe. Ich kann u: mag dir nichts dagegen versprechℓ, als: "Wenn Füßli kommt, wie er mir große Hofnung gemacht, daß er besonders was für dich zeichnen soll."

  =

 Vor einigen Tagen war der Herzog von Würtemberg bey uns. Ich zeigt' ihm das WaysenHaus, u: beobachtet' ihn sehr. Die Originellste oder schönste Mannsbildung, die glüklichste Vermischung von Majestät| 5 | und Huld – lauter Herzoglichkeit; Unerschöpfliche SeminalKraft! unersättliche Eitelkeit! Adlersblick! Heldengang! Würkungsglut! Reflektirendes, vergleichendes Selbstgefühl! – Tod u: Leben! Himmel u: Hölle!

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 Die beyden Prinzen von Sachsen Meynung – freylich neben dem Herzog verlieren sie sehr im äußern! Ich sahe sie neben einander; Aber, daß Sie so für dich eingenommen waren, dich so sehr wieder zusehen wünschen; daß Sie so auf gutes u: gute ausgehen – p – machte mir sie dennoch viel lieber, als den majestätischen Herzog.

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 Meine Frau u: mein Knabe ziemlich wohl. Pfenninger noch immer im Bad. Mitte Septembers tritt er sein Amt an. Häfeli grüßt dich, alles grüßt dich.| 6 | Hab' Geduld mit mir – ich will dir alles bezahlen. Womit? mit – ewigem Glauben. – Apropos – Hast Menschℓ, Thier u: Goethe, u: was der Esel von mir sagt, gesehen? – Adieü. Kocht auch wieder was wider mich, sagt man. Red auch ein treflich Worte mit Pestaluzℓ, bitte, bitte.

    J. C. L.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 54, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0054_00057.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 54.

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