Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 53
Von Wilhelm Brenner

31. August 1775, Basel

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   Mein lieber Herr Doctor!



Sie sind ein Freund von Hℓ. Pfarrer Lavater und Hℓ. Helfer Pfen-
ninger in Zürch, in beyder Häußern habe ich Sie gesehen und gutes
von Ihnen gehört, da ich nun auch das Glück habe mit diesen lieben
Männern in Freundschaft zu stehen, so kommt es mir so vor als ob ich
auch einiger massen mit Ihnen mein l. Hℓ. Doct: verwant wäre, und
nehme daher die Freyheit Ihnen diese Zeilen zu schreiben. Da ich den
2​t. Junℓ. die Ehre hatte Sie zum ersten mal in Zürich bey Hℓ. Pr. Lavater zu
sehen, waren Sie mir ganz unbekannt, daher ich nichts mit Ihnen zu
reden wuste, ungefehr vernahm ich daß Sie der Autor seyen von
dem Tractätℓ: die leiden des jungen Werthers, (welches mir auch noch un-
bekannt war – aussert daß ich solches alhier in denen öffentlichen
Blättern oft angetragen gefunden,) und wurde daher begierig solches
zu lesen, um Sie einiger massen daraus kennen zu lernen.


   Darf ich ihnen nun aber auch sagen, wie ichs gefunden, darf ich
hoffen sie nehmen es mir nicht in Uebel, wann ich ihnen in aller Frey-
heit meine Gedanken sage, ich weiß doch sie halten nichts von heuchlen
u. schmeicheln, auch wissen sie daß der Menschen Gedanken sehr sehr
von einander unterschieden sind, u. werden es daher wohl ertra-
genkönnen wenn sie auch die meinen nicht mit den ihren übereinkom-
mend finden.   Gleich auf dem Tittulblat ihres Tractätleins
kommt eine Frage vor, nemlich: Ach der heiligste von unsern Trieben,
warum quillt aus ihm die grimme Pein? diese Frage, u. die
traurige Geschichte so sie beschrieben haben, lassen ungefehr merken
wo die Frage hinziele; da muß ich ihnen gleich sagen, daß ich den Satz,
daß aus dem heiligsten von unsern Trieben ein grimme Pein | 2 |
quille wieder die Wahrheit und die Erfahrung zu lauffen finde, der heiligste
von unsern Trieben ist die Liebe, davon heißt es in den Buche der Wahrheit:
du sollt lieben Gott deinen Herrn von ganzen Herzen, von gazer Seele, von
ganzem Gemüth u. aus allen deinen Kräften. Mit dem größten Recht for-
dert Gott, deme wir allein unser Daseyn u. alles gute zu danken
haben, eine solche volkommene Liebe von uns, und wann wir dasfals
thun was wir schuldig sind, so kan nicht erwiesen werden, daß
daraus eine grimme Pein quille, sondern ohnstreitig das höchste
Vergnügen, ganz anderst aber verhält es sich mit der unordentlichen
Liebe zu einem Geschöpfe, so wie diejenige des jungen Werthers
ware, aus einer solchen fließt natürlicher weise die Grimme Peyn.
ich heisse unordentlich alles was wieder die Göttliche ordnung,
so wie sie uns in der hℓ. Schrifftℓ beschrieben
wird, läuffet, Lotte war das Eigenthum des Alberten, daher war
es wieder die Göttliche ordnung, daß sich werther in sie verliebte,
hätte er aber von ganzem Herzen begehrt dem Willen Gottes
gemäß zu leben, so würde er über die erste verliebte Neigung
zu Lotten erschrocken seyn, u. im Bewustseyn der Menschlichen Schwach-
heit sich gleich zurückgezogen, u. ihren Umgang, so viel es nöthig ge-
wesen wäre, gemieden haben, da er aber gleich beym ersten
Anlaß zu dieser Verliebtnuß, wieder sein Gewissen, wieder
die Vernunft, die ihme die traurige Folgen davon, obgleich
nicht in so hohem grad als es geschehen ist, hätte vor her sagen können,
diesen Gift mit Wissen u. Willen begierig hin unter geschlukt, so
war es ja kein Wunder, daß solcher endlich seine natürliche | 3 |
Würkung gethan und ihme sein Leben verkürzet, und dunckt mich unrecht zu
seyn, wan man deßfals das Schicksal beschuldigen wolte. wie ich denn auch nicht
finde daß sie mit Grund hoffen können verständige Menschen werden dem
Carakter des Werthers ihre Bewunderung u. seinem Schicksal ihre Thränen nicht
versagen, bedauren kann ich wohl einen Menschen der wißendlich Gift zu sich
nimmt, weil solcher etwan angenehm schmecket, und er denkt er müßte
ihm doch zuvor wohl thun, ehe er ihm wehe thun konne, aber bewundern
kan ich ihme nicht, er mögte auch sonst daneben noch so gute Qualitaeten
haben, das Schicksal aber zu beweinen dunkt mich ungereimt, und eben
so viel als den allweisen Gott tadlen, als ob er das Schiksal nicht
recht gemacht hätte, was war aber des armen Werthers Schiksal
anders, als das Lotte nicht sein Weib seyn sollte, was hatte e
hierüber zu klagen? gesetzt es käme mich ein Gelust an König
in Frankreich zu werden, ich sehe aber keine Möglichkeit diesen
Gelust zu erfüllen, wird jemand deßwegen mein Schiksal bewei-
nen daß ich nicht ein König worden bin, wurde ich nicht ehender
für Wahnsinnig gehalten werden, und so kann ich einen jeden, der
etwas begehrt das ihme nicht gebühret und er nicht haben kan,
nicht ganz von dieser Krankheit frey sprechen.


   Nun ich will ihnen nicht mit Weitläuftigkeiten beschwärlich
fallen, aus dem bemeldten könen sie schon den Schluß machen
wie mir eint und anders in den Briefen des jungen Werthers
gefallen oder mißfallen habe, woran ihnen freylich nicht ge-
legen seyn wird, doch um mir in iener Welt, wann | 4 |
wir uns etwann darinn rencontriren sollten keinen
Vorwurf machen zu können, daß ich ihnen meine
Gedanken nicht erofnet, folge ich nun meiner Neigung
solches zu thun, in deme ich nicht sehe was es schaden
kan, nehmen sie es wohl auf, so freut es mich,
bin ich ihnen aber beschwärlich, so ist es mir leid, und
sie sollen mir als ein Mensch, für den Christus gestorben
ist, dennoch ewig lieb bleiben, in diesem Sinn befehle
ich mich ihnen als


   Ihr unnützer Diener

    Wilhelm Brenner.


S: GSA 28/216 St. 1  D: Briefe HA Nr. 39  B: -  A: -  V: Abschrift von L. von Göchhausen 

B. habe G. in Zürich bei Lavater und J. K. Pfenninger gesehen, mit denen er befreundet sei. Daher erlaube er sich, ihm seine Gedanken über "Die Leiden des jungen Werthers" zu schreiben. G. dürfe ihm seine Offenheit nicht übelnehmen. Das Motto auf dem Titelblatt Ach der heiligste von unsern Trieben, warum quillt aus ihm die grimme Pein? rufe schon B.s Widerspruch hervor; denn der heiligste von unsern Trieben sei die Liebe zu Gott, aus der nur das höchste Vergnügen hervorquelle. Werthers Liebe aber sei wider die göttliche Ordnung und wider die Vernunft und darum voller Pein. Lotte sei das Eigenthum Alberts, Werther hätte beim Aufkeimen seiner Neigung sofort ihren Umgang meiden sollen. So aber sei sein Untergang ganz natürlich erfolgt, und man dürfe das Schicksal nicht anklagen. B. könne Werther nur bedauern, nicht aber bewundern. B. könne z. B. nicht König von Frankreich sein; jeder der etwas begehrt das ihme nicht gebührt, sei für wahnsinnig zu halten. - Trotz seiner heftigen Kritik am "Werther" wolle B. aber G. lieben als einen Menschen, für den Christus gestorben sei.

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 Mein lieber Herr Doctor!


 Sie sind ein Freund von Hℓ. Pfarrer Lavater und Hℓ. Helfer Pfenninger in Zürch, in beyder Häußern habe ich Sie gesehen und gutes von Ihnen gehört, da ich nun auch das Glück habe mit diesen lieben Männern in Freundschaft zu stehen, so kommt es mir so vor als ob ich auch einiger massen mit Ihnen mein l. Hℓ. Doct: verwant wäre, und nehme daher die Freyheit Ihnen diese Zeilen zu schreiben. Da ich den 2​t. Junℓ. die Ehre hatte Sie zum ersten mal in Zürich bey Hℓ. Pr. Lavater zu sehen, waren Sie mir ganz unbekannt, daher ich nichts mit Ihnen zu reden wuste, ungefehr vernahm ich daß Sie der Autor seyen von dem Tractätℓ: die leiden des jungen Werthers, (welches mir auch noch unbekannt war – aussert daß ich solches alhier in denen öffentlichen Blättern oft angetragen gefunden,) und wurde daher begierig solches zu lesen, um Sie einiger massen daraus kennen zu lernen.

  Darf ich ihnen nun aber auch sagen, wie ichs gefunden, darf ich hoffen sie nehmen es mir nicht in Uebel, wann ich ihnen in aller Freyheit meine Gedanken sage, ich weiß doch sie halten nichts von heuchlen u. schmeicheln, auch wissen sie daß der Menschen Gedanken sehr sehr von einander unterschieden sind, u. werden es daher wohl ertragenkönnen wenn sie auch die meinen nicht mit den ihren übereinkommend finden. Gleich auf dem Tittulblat ihres Tractätleins kommt eine Frage vor, nemlich: Ach der heiligste von unsern Trieben, warum quillt aus ihm die grimme Pein? diese Frage, u. die traurige Geschichte so sie beschrieben haben, lassen ungefehr merken wo die Frage hinziele; da muß ich ihnen gleich sagen, daß ich den Satz, daß aus dem heiligsten von unsern Trieben ein grimme Pein| 2 | quille wieder die Wahrheit und die Erfahrung zu lauffen finde, der heiligste von unsern Trieben ist die Liebe, davon heißt es in den Buche der Wahrheit: du sollt lieben Gott deinen Herrn von ganzen Herzen, von gazer Seele, von ganzem Gemüth u. aus allen deinen Kräften. Mit dem größten Recht fordert Gott, deme wir allein unser Daseyn u. alles gute zu danken haben, eine solche volkommene Liebe von uns, und wann wir dasfals thun was wir schuldig sind, so kan nicht erwiesen werden, daß daraus eine grimme Pein quille, sondern ohnstreitig das höchste Vergnügen, ganz anderst aber verhält es sich mit der unordentlichen Liebe zu einem Geschöpfe, so wie diejenige des jungen Werthers ware, aus einer solchen fließt natürlicher weise die Grimme Peyn. ich heisse unordentlich alles was wieder die Göttliche ordnung, so wie sie uns in der hℓ. Schrifftℓ beschrieben wird, läuffet, Lotte war das Eigenthum des Alberten, daher war es wieder die Göttliche ordnung, daß sich werther in sie verliebte, hätte er aber von ganzem Herzen begehrt dem Willen Gottes gemäß zu leben, so würde er über die erste verliebte Neigung zu Lotten erschrocken seyn, u. im Bewustseyn der Menschlichen Schwachheit sich gleich zurückgezogen, u. ihren Umgang, so viel es nöthig gewesen wäre, gemieden haben, da er aber gleich beym ersten Anlaß zu dieser Verliebtnuß, wieder sein Gewissen, wieder die Vernunft, die ihme die traurige Folgen davon, obgleich nicht in so hohem grad als es geschehen ist, hätte vor her sagen können, diesen Gift mit Wissen u. Willen begierig hin unter geschlukt, so war es ja kein Wunder, daß solcher endlich seine natürliche| 3 | Würkung gethan und ihme sein Leben verkürzet, und dunckt mich unrecht zu seyn, wan man deßfals das Schicksal beschuldigen wolte. wie ich denn auch nicht finde daß sie mit Grund hoffen können verständige Menschen werden dem Carakter des Werthers ihre Bewunderung u. seinem Schicksal ihre Thränen nicht versagen, bedauren kann ich wohl einen Menschen der wißendlich Gift zu sich nimmt, weil solcher etwan angenehm schmecket, und er denkt er müßte ihm doch zuvor wohl thun, ehe er ihm wehe thun konne, aber bewundern kan ich ihme nicht, er mögte auch sonst daneben noch so gute Qualitaeten haben, das Schicksal aber zu beweinen dunkt mich ungereimt, und eben so viel als den allweisen Gott tadlen, als ob er das Schiksal nicht recht gemacht hätte, was war aber des armen Werthers Schiksal anders, als das Lotte nicht sein Weib seyn sollte, was hatte e hierüber zu klagen? gesetzt es käme mich ein Gelust an König in Frankreich zu werden, ich sehe aber keine Möglichkeit diesen Gelust zu erfüllen, wird jemand deßwegen mein Schiksal beweinen daß ich nicht ein König worden bin, wurde ich nicht ehender für Wahnsinnig gehalten werden, und so kann ich einen jeden, der etwas begehrt das ihme nicht gebühret und er nicht haben kan, nicht ganz von dieser Krankheit frey sprechen.

  Nun ich will ihnen nicht mit Weitläuftigkeiten beschwärlich fallen, aus dem bemeldten könen sie schon den Schluß machen wie mir eint und anders in den Briefen des jungen Werthers gefallen oder mißfallen habe, woran ihnen freylich nicht gelegen seyn wird, doch um mir in iener Welt, wann| 4 | wir uns etwann darinn rencontriren sollten keinen Vorwurf machen zu können, daß ich ihnen meine Gedanken nicht erofnet, folge ich nun meiner Neigung solches zu thun, in deme ich nicht sehe was es schaden kan, nehmen sie es wohl auf, so freut es mich, bin ich ihnen aber beschwärlich, so ist es mir leid, und sie sollen mir als ein Mensch, für den Christus gestorben ist, dennoch ewig lieb bleiben, in diesem Sinn befehle ich mich ihnen als

 Ihr unnützer Diener   Wilhelm Brenner.

 

 
 

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Online-Edition:
RA 1, Nr. 53, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0053_00056.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 53.

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