BuG: BuG I, A 38
Frankfurt Sommer 1764

Dichtung und Wahrheit VI (WA I 27, 10)

Frankfurt Sommer 1764

Mein Freund [der Aufseher] fing ... an, mich mit den philosophischen Geheimnissen bekannt zu machen. Er hatte unter Daries in Jena studirt und als ein sehr wohlgeordneter Kopf den Zusammenhang jener Lehre scharf gefaßt und so suchte er sie auch mir beizubringen. Aber leider wollten diese Dinge in meinem Gehirn auf eine solche Weise nicht zusammenhängen. Ich that Fragen, die er später zu beantworten, ich machte Forderungen, die er künftig zu befriedigen versprach. Unsere wichtigste Differenz war jedoch diese, daß ich behauptete, eine abgesonderte Philosophie sei nicht nöthig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei. Dieses wollte er nun keineswegs gelten lassen, sondern suchte mir vielmehr zu beweisen, daß erst diese durch jene begründet werden müßten; welches ich hartnäckig läugnete, und im Fortgange unserer Unterhaltung bei jedem Schritt Argumente für meine Meinung fand. Denn da in der Poesie ein gewisser Glaube an das Unmögliche, in der Religion ein eben solcher Glaube an das Unergründliche statt finden muß, so schienen mir die Philosophen in einer sehr üblen Lage zu sein, die auf ihrem Felde beides beweisen und erklären wollten; wie sich denn auch aus der Geschichte der Philosophie sehr geschwind darthun ließ, daß immer einer einen andern Grund suchte als der andre, und der Skeptiker zuletzt alles für grund- und bodenlos ansprach.

Eben diese Geschichte der Philosophie jedoch, die mein Freund mit mir zu treiben sich genöthigt sah, weil ich dem dogmatischen Vortrag gar nichts abgewinnen konnte, unterhielt mich sehr, aber nur in dem Sinne, daß mir eine Lehre, eine Meinung so gut wie die andre vorkam, insofern ich nämlich in dieselbe einzudringen fähig war. An den ältesten Männern und Schulen gefiel mir am besten, daß Poesie, Religion und Philosophie ganz in Eins zusammenfielen, und ich behauptete jene meine erste Meinung nur um desto lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe-Lied und die Sprüchwörter Salomonis eben so gut als die Orphischen und Hesiodischen Gesänge dafür ein gültiges Zeugniß abzulegen schienen. Mein Freund hatte den kleinen Brucker zum Grunde seines Vortrags gelegt, und je weiter wir vorwärts kamen, je weniger wußte ich daraus zu machen. Was die ersten griechischen Philosophen wollten, konnte mir nicht deutlich werden. Sokrates galt mir für einen trefflichen weisen Mann, der wohl, im Leben und Tod, sich mit Christo vergleichen lasse. Seine Schüler hingegen schienen mir große Ähnlichkeit mit den Aposteln zu haben, die sich nach des Meisters Tode sogleich entzweiten und offenbar jeder nur eine beschränkte Sinnesart für das Rechte erkannte. Weder die Schärfe des Aristoteles, noch die Fülle des Plato fruchteten bei mir im mindesten. Zu den Stoikern hingegen hatte ich schon früher einige Neigung gefaßt, und schaffte nun den Epiktet herbei, den ich mit vieler Theilnahme studirte. Mein Freund ließ mich ungern in dieser Einseitigkeit hingehen, von der er mich nicht abzuziehen vermochte; denn ungeachtet seiner mannichfaltigen Studien, wußte er doch die Hauptfrage nicht in’s Enge zu bringen.

Dichtung und Wahrheit VI (WA I 27, 13)

Frankfurt Sommer 1764

In der größten Tiefe des Waldes hatte ich mir einen ernsten Platz ausgesucht, wo die ältesten Eichen und Buchen einen herrlich großen beschatteten Raum bildeten ...

Kaum hatte ich meinen Freund, der sich lieber in freier Landschaft am Strom unter Menschen befand, hieher genöthiget, als er mich scherzend versicherte, ich erweise mich wie ein wahrer Deutscher. Umständlich erzählte er mir aus dem Tacitus, wie sich unsere Urväter an den Gefühlen begnügt, welche uns die Natur in solchen Einsamkeiten mit ungekünstelter Bauart so herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange davon erzählt, als ich ausrief: O! warum liegt dieser köstliche Platz nicht in tiefer Wildniß, warum dürfen wir nicht einen Zaun umher führen, ihn und uns zu heiligen und von der Welt abzusondern! Gewiß es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt! – Was ich damals fühlte, ist mir noch gegenwärtig; was ich sagte, wüßte ich nicht wieder zu finden. So viel ist aber gewiß, daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und ungebildeter Völker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind.

Dichtung und Wahrheit VI (WA I 27, 18)

Frankfurt Sommer 1764

Dieser [mein Vater], durch meinen Aufseher benachrichtigt, daß ich mich nach und nach in meinen Zustand finde und besonders mich leidenschaftlich auf das Zeichnen nach der Natur gewendet habe, war damit gar wohl zufrieden, theils weil er selbst sehr viel auf Zeichnung und Mahlerei hielt, theils weil Gevatter Seekaz ihm einigemal gesagt hatte, es sei Schade, daß ich nicht zum Mahler bestimmt sei ... Wirklich war auch in diesem Puncte die Pädagogik meines Vaters zu bewundern. Er fragte wohlwollend nach meinen Versuchen, und zog Linien um jede unvollkommene Skizze: er wollte mich dadurch zur Vollständigkeit und Ausführlichkeit nöthigen; die unregelmäßigen Blätter schnitt er zurechte, und machte damit den Anfang zu einer Sammlung, in der er sich dereinst der Fortschritte seines Sohnes freuen wollte. Es war ihm daher keineswegs unangenehm, wenn mich mein wildes unstätes Wesen in der Gegend umhertrieb, vielmehr zeigte er sich zufrieden, wenn ich nur irgend ein Heft zurückbrachte, an dem er seine Geduld üben und seine Hoffnungen einigermaßen stärken konnte ...

Den Drusenstein auf dem Walle zu Mainz zeichnete ich mit einiger Gefahr ... Leider hatte ich abermals nur das schlechteste Conceptpapier mitgenommen, und mehrere Gegenstände unschicklich auf ein Blatt gehäuft; aber mein väterlicher Lehrer ließ sich dadurch nicht irre machen; er schnitt die Blätter aus einander, ließ das Zusammenpassende durch den Buchbinder aufziehen, faßte die einzelnen Blätter in Linien und nöthigte mich dadurch wirklich, die Umrisse verschiedener Berge bis an den Rand zu ziehen und den Vordergrund mit einigen Kräutern und Steinen auszufüllen.

Dichtung und Wahrheit VI (WA I 27, 22)

Frankfurt Sommer 1764

Da ... die Stunden der Eingezogenheit und Mühe sehr lang und weit waren gegen die Augenblicke der Erholung und des Vergnügens, besonders für meine Schwester, die das Haus niemals auf so lange Zeit als ich verlassen konnte, so ward ihr Bedürfniß, sich mit mir zu unterhalten, noch durch die Sehnsucht geschärft, mit der sie mich in die Ferne begleitete.

Und so wie in den ersten Jahren Spiel und Lernen, Wachsthum und Bildung den Geschwistern völlig gemein war, so daß sie sich wohl für Zwillinge halten konnten, so blieb auch unter ihnen diese Gemeinschaft, dieses Vertrauen bei Entwickelung physischer und moralischer Kräfte. Jenes Interesse der Jugend, jenes Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe, die sich in geistige Formen, geistiger Bedürfnisse, die sich in sinnliche Gestalten einkleiden, alle Betrachtungen darüber, die uns eher verdüstern als aufklären, wie ein Nebel das Thal, woraus er sich emporheben will, zudeckt und nicht erhellt, manche Irrungen und Verirrungen, die daraus entspringen, theilten und bestanden die Geschwister Hand in Hand, und wurden über ihre seltsamen Zustände um desto weniger aufgeklärt, als die heilige Scheu der nahen Verwandtschaft sie, indem sie sich einander mehr nähern, in’s Klare treten wollten, nur immer gewaltiger aus einander hielt ...

So wie Vertraute, denen man ein Liebesverständniß offenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heranwachsen und die Neigung zuletzt wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwistern: denn indem mein Verhältniß zu Gretchen zerriß, tröstete mich meine Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufriedenheit empfand, eine Nebenbuhlerin losgeworden zu sein.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0038 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0038.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 56 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang