BuG: BuG I, A 26
Frankfurt 21. 3. 1764

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 295)

Frankfurt 21. 3. 1764

Wir lassen also für dießmal den Churfürsten Emmerich Joseph so zu sagen incognito im Compostell eintreffen, und wenden uns zu Gretchen, die ich, eben als die Volksmenge sich verlief, von Pylades und seiner Schönen begleitet (denn diese drei schienen nun unzertrennlich zu sein) im Getümmel erblickte. Wir hatten uns kaum erreicht und begrüßt, als schon ausgemacht war, daß wir diesen Abend zusammen zubringen wollten, und ich fand mich bei Zeiten ein. Die gewöhnliche Gesellschaft war beisammen, und jedes hatte etwas zu erzählen, zu sagen, zu bemerken; wie denn dem einen dieß, dem andern jenes am meisten aufgefallen war. Eure Reden, sagte Gretchen zuletzt, machen mich fast noch verworrner als die Begebenheiten dieser Tage selbst. Was ich gesehen, kann ich nicht zusammenreimen, und möchte von manchem gar zu gern wissen, wie es sich verhält. Ich versetzte, daß es mir ein Leichtes sei, ihr diesen Dienst zu erzeigen. Sie solle nur sagen, wofür sie sich eigentlich interessire. Dieß that sie, und indem ich ihr einiges erklären wollte, fand sich’s, daß es besser wäre in der Ordnung zu verfahren. Ich verglich nicht unschicklich diese Feierlichkeiten und Functionen mit einem Schauspiel, wo der Vorhang nach Belieben heruntergelassen würde, indessen die Schauspieler fortspielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuschauer könne an jenen Verhandlungen einigermaßen wieder Theil nehmen. Weil ich nun sehr redselig war, wenn man mich gewähren ließ, so erzählte ich alles von Anfang an bis auf den heutigen Tag, in der besten Ordnung, und versäumte nicht, um meinen Vortrag anschaulicher zu machen, mich des vorhandenen Griffels und der großen Schieferplatte zu bedienen. Nur durch einige Fragen und Rechthabereien der andern wenig gestört, brachte ich meinen Vortrag zu allgemeiner Zufriedenheit an’s Ende, indem mich Gretchen durch ihre fortgesetzte Aufmerksamkeit höchlich ermuntert hatte. Sie dankte mir zuletzt und beneidete, nach ihrem Ausdruck, alle diejenigen, die von den Sachen dieser Welt unterrichtet seien und wüßten wie dieses und jenes zugehe und was es zu bedeuten habe. Sie wünschte sich ein Knabe zu sein, und wußte mit vieler Freundlichkeit anzuerkennen, daß sie mir schon manche Belehrung schuldig geworden. Wenn ich ein Knabe wäre, sagte sie, so wollten wir auf Universitäten zusammen etwas Rechtes lernen. Das Gespräch ward in der Art fortgeführt, sie setzte sich bestimmt vor, Unterricht im Französischen zu nehmen, dessen Unerläßlichkeit sie im Laden der Putzhändlerin wohl gewahr worden. Ich fragte sie, warum sie nicht mehr dorthin gehe: denn in der letzten Zeit, da ich des Abends nicht viel abkommen konnte, war ich manchmal bei Tage, ihr zu Gefallen, am Laden vorbei gegangen, um sie nur einen Augenblick zu sehen. Sie erklärte mir, daß sie in dieser unruhigen Zeit sich dort nicht hätte aussetzen wollen. Befände sich die Stadt wieder in ihrem vorigen Zustande, so denke sie auch wieder hinzugehen.

Nun war von dem nächst bevorstehenden Wahltag die Rede. Was und wie es vorgehe, wußte ich weitläufig zu erzählen, und meine Demonstration durch umständliche Zeichnungen auf der Tafel zu unterstützen; wie ich denn den Raum des Conclave mit seinen Altären, Thronen, Sesseln und Sitzen vollkommen gegenwärtig hatte. – Wir schieden zu rechter Zeit und mit sonderlichem Wohlbehagen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0026 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0026.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 45 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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