BuG: BuG I, A 821
Irrtümliches und Zweifelhaftes 3. 4. 1776

*Böttiger, Lit. Zustände 1, 18

3. 4. 1776

Als Goethe nach Weimar gekommen war, vernahm Lenz seines „Herrn Bruders“ Glücksfall, und macht sich nun auch auf den Weg, um diesem Sterne sich zu nahen. Er kam eines Tages sehr zerlumpt und abgerissen in Weimar im Erbprinzen an, und schickt sogleich eine Karte an Goethe, der dem Herzog in einer Unpäßlichkeit Unterhaltung leistete, des Inhalts: „Der lahme Kranich ist angekommen. Er sucht, wo er seinen Fuß hinsetze. Lenz“. Goethe lachte laut auf, als er dies Billet erhielt, und weiset es dem Herzog, der sogleich befiehlt, er solle geholt werden.


Goethe befand sich bei der Ankunft von Lenz (3. 4. 1776) nicht in Weimar.

Falk, Goethe S. 126.

3. 4. 1776

Um diese Zeit geschah es auch, daß Lenz, ein früher und genialer Jugendfreund Goethe’s, nach Weimar kam, als eben dieser und der Herzog zufällig nicht zugegen waren. Er steigt im Gasthofe zum Erbprinzen ab, und hört daselbst bald, daß heute Abend am Hofe ein bal paré seyn solle. Bal paré oder bal masqué, das kam Lenz’s Ohren auf ein und dasselbe heraus ... Dem Dinge sollst du doch beiwohnen, denkt er bei sich, und weil dazu weiter nichts als ein schwarzer Domino und eine Maske gehört, so läßt er sich beides durch den Marqueur kommen ... Sobald die Stunde schlägt, geht Lenz wirklich in diesem Aufzuge an den Hof. Man denke sich das Erstaunen der zum Tanze fröhlich geschmückten Herren und Damen, als plötzlich ein schwarzer Domino in ihrer Mitte erscheint. Lenz bemerkt es indeß noch immer nicht, was für eine Rolle er hier spielt. Er geht vielmehr voll Zutrauen in den engen Kreis der Zuschauer und fodert eins der vornehmsten Fräulein zum Tanze auf. Diese aber erkundigte sich, wie zu erwarten stand, zuvor nach seinem Namen und Charakter, wie man es an den Thoren nennt, und da er ihr kurzhin antwortet: „Ich bin Lenz,“ so schlägt sie ihm, da dies kein ebenbürtiger Name ist, unter solchen Umständen den Tanz ebenso kurz ab; das heißt in der Kunstsprache: sie bedauert u.s.w. Glücklicherweise erscheint inzwischen Goethe, als die Verwirrung aufs höchste gestiegen ist. Dieser erkennt sogleich in dem Domino den längst erwarteten, alten, wunderlich humoristischen Freund. Er läßt Lenz alsbald auf die Gallerie rufen, die an den Saal stößt, und nach der ersten freudigen Wiedererkennung hebt er an: „Aber sag mir nur zum Teufel, was Dir einfällt, in einem Zirkel bei Hof zu erscheinen, wo Dich kein Mensch eingeladen hat, und noch dazu in einem solchen Aufzuge?“ – „Geladen oder ungeladen,“ versetzte der über seinen Korb noch immer etwas entrüstete Lenz, „das ist all Eins! Es ist ein Maskenball, und da, denk’ ich, hat Jeder freien Zutritt.“ – „Was, Maskenball?“ fällt ihm Goethe hier aufs Neue ins Wort; „bal paré, Kind, oder vielmehr Kindeskopf, daß Du das nicht unterscheiden kannst!“ – „Nun meinetwegen bal paré oder bal masqué!“ brummte Lenz in den Bart. „Was schiert mich all Euer haarfeiner Distinctionskram und all Euer verwünschter französischer Schnickschnack! Ich meinerseits bekomme jedesmal ein Fieber, so oft ich nur ein Wort Welsch höre, wie ein welscher Hahn, der kaudert, sobald er Roth sieht. Sind Eure Ohren mit reinerm Taufwasser, als die meinigen, ausgewaschen, so dankt Gott dafür; nur sollt Ihr mich mit all’ solchen höfischen Geschichten ein für allemal ungeschoren lassen, wenn Ihr nicht wollt, daß ich sogleich wieder umkehren und mein Bündel schnüren soll. Ja, wenn es nur noch eine Sprache wäre, die sie sprächen, kurz, laut und verständlich, wie unsere; aber so schnarren sie durch die Nase, wie eine Sackpfeife, und kein ehrlicher Deutscher kann aus dem Zeuge, das sie in Menge vorbringen, klug werden.“ Goethe und Wieland, den Lenz selbst wegen seiner großen Vorliebe für die französische Literatur als einen halben Franzosen betrachtete, suchten den aufgebrachten Lenz möglichst zu besänftigen. Sie verließen bald darauf sämmtlich den Hof, aber nicht ohne den Stoff zu einer geistreich fröhlichen Abendunterhaltung mitzunehmen.


Goethe befand sich bei der Ankunft von Lenz (3. 4. 1776) nicht in Weimar.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0821 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0821.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 487 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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