BuG: BuG I, A 347
Frankfurt 1. Hälfte Okt. 1774

F. A. C. Werthes an F. H. Jacobi 18. 10. 1774 (GJb 7, 207)

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Frankfurt 1. Hälfte Okt. 1774

Dieser Goethe, von dem und von dem allein ich vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne, und von ihrem Niedergang bis wieder zu ihrem Aufgang mit Ihnen sprechen und stammeln und singen und dithyrambisieren möchte, dessen Genius zwischen Klopstocken und mir stand, und über die Alpen und Schneegebirge gleichsam einen Sonnenschleyer herwarf, er selbst immer mir gegenüber, und neben und über mir, dieser Goethe hat sich gleichsam über alle meine Ideale emporgeschwungen, die ich jemals von unmittelbarem Gefühl und Anschaun eines grossen Genius gefasst hatte. Noch nie hätt’ ich das Gefühl der Jünger von Emahus im Evangelio so gut exegisieren und mitempfinden können, vor dem sie sagten: „brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete?“ Machen wir ihn immer zu unserm Herrn Christus, und lassen Sie mich den lezten seiner Jünger seyn. Er hat so viel und so vortreflich mit mir gesprochen; Worte des ewigen Lebens, die so lang ich athme, meine Glaubensartikel seyn sollen ...

Bey Klopstocken bin ich von Nachmittags fünf bis Nachts zehn Uhr gewesen. Ich fand einen edlen und grossen Mann an ihm; weniger, wie auch Goethe sagte, den Verfasser des Messias als den der Republik ... Man hört und sieht die feurige Triebräder seines Geistes gleichsam nur in der Ferne; da man bey Goethe manchmal, wie man sagt, ins Rad gekommen zu seyn glaubt. Man steht, und staunt, und zittert mitten in der heiligen Werkstätte; und doch liebt man den grossen Meister, getraut sich ihn zu umarmen, und wünscht zu seinen Füssen zu leben und zu sterben.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0347 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0347.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 297 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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