Dichtung und Wahrheit XVIII (WA I 29, 103)
Zürich 9. 6. 1775
Ich eilte zu Lavatern. Der Empfang war heiter und herzlich, und man muß gestehen anmuthig ohne gleichen; zutraulich, schonend, segnend, erhebend, anders konnte man sich seine Gegenwart nicht denken. Seine Gattin, mit etwas sonderbaren, aber friedlichen zartfrommen Zügen, stimmte völlig, wie alles andere um ihn her, in seine Sinnes- und Lebensweise.
Unsre nächste, und fast ununterbrochene Unterhaltung war seine Physiognomik. Der erste Theil dieses seltsamen Werkes war, wenn ich nicht irre, schon völlig abgedruckt, oder wenigstens seiner Vollständigkeit nahe ...
Wer die vier Bände der Physiognomik durchblättert und, was ihn nicht reuen wird, durchlies’t, mag bedenken, welches Interesse unser Zusammensein gehabt habe, indem die meisten der darin vorkommenden Blätter schon gezeichnet und ein Theil gestochen waren, vorgelegt und beurtheilt wurden und man die geistreichen Mittel überlegte, womit selbst das Untaugliche in diesem Falle lehrreich und also tauglich gemacht werden könnte.