BuG:BuG I, A 397
Offenbach Ende Apr./Anf. Mai 1775

Dichtung und Wahrheit XVII (WA I 29, 50)

Offenbach Ende Apr./Anf. Mai (?) 1775

Mit solchen angenehmen Pflichten beschäftigt sah ich die Sonne untergehen, die einen folgenden heitern Tag verkündigte und unserm Fest ihre frohe glänzende Gegenwart versprach, als Lili’s Bruder George, der sich nicht verstellen konnte, ziemlich ungebärdig in’s Zimmer trat und ohne Schonung zu erkennen gab, daß unser morgendes Fest gestört sei; er wisse selbst weder wie noch wodurch, aber die Schwester lasse sagen, daß es ihr völlig unmöglich sei morgen Mittag nach Offenbach zu kommen und an dem ihr zugedachten Feste Theil zu nehmen; erst gegen Abend hoffe sie ihre Ankunft bewirken zu können. Nun fühle und wisse sie recht gut wie unangenehm es mir und unsern Freunden fallen müsse, bitte mich aber so herzlich dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser Nachricht, die sie mir überlasse hinaus zu melden, gemildert, ja versöhnt werde; sie wolle mir’s zum allerbesten danken.

Ich schwieg einen Augenblick, hatte mich auch sogleich gefaßt und wie durch himmlische Eingebung gefunden was zu thun war. Eile, rief ich, George! sag’ ihr, sie solle sich ganz beruhigen, möglich machen daß sie gegen Abend komme; ich verspräche: gerade dieses Unheil solle zum Fest werden! Der Knabe war neugierig und wünschte zu wissen wie? dieß wurde ihm standhaft verweigert, ob er gleich alle Künste und Gewalt zu Hülfe rief, die ein Bruder unserer Geliebten auszuüben sich anmaßt.

Kaum war er weg, so ging ich mit sonderbarer Selbstgefälligkeit in meiner Stube auf und ab, und mit dem frohen freien Gefühl, daß hier Gelegenheit sei mich als ihren Diener auf eine glänzende Weise zu zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schöner Seide, wie es dem Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben: „Sie kommt nicht!“ „ein jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni 1775 in Offenbach am Main auf das allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis auf’n Abend.“ ...

Dieß alles ward während eines Theiles der Nacht mit laufender Feder niedergeschrieben und einem Boten übergeben, der am nächsten Morgen Punct zehn Uhr mit der Depesche in Offenbach einzutreffen unterrichtet war.

Den hellsten Morgen erblickend wacht’ ich auf, mit Vorsatz und Einrichtung, genau Mittags gleichfalls in Offenbach anzulangen.

Ich ward empfangen mit dem wunderlichsten Charivari von Entgegnungen; das gestörte Fest verlautete kaum; sie schalten und schimpften, daß ich sie so gut getroffen hätte. Die Dienerschaft war zufrieden mit der Herrschaft auf gleichem Theater aufgetreten zu sein, nur die Kinder, als die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnäckig: so hätten sie nicht gesprochen und es sei überhaupt alles ganz anders gewesen, als wie es hier geschrieben stünde. Ich beschwichtigte sie mit einigen Vorgaben des Nachtisches, und sie hatten mich wie immer lieb. Ein fröhliches Mittagsmahl, eine Mäßigung aller Feierlichkeiten gab uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher zu empfangen. Sie kam und ward von heitern, ja lustigen Gesichtern bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außenbleiben so viel Heiterkeit erlaube. Man erzählte ihr alles, man trug ihr alles vor und sie, nach ihrer lieben und süßen Art, dankte mir wie sie allein nur konnte.

Es bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu bemerken, daß ihr Ausbleiben von dem ihr gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch Hin- und Herreden über unser Verhältniß verursacht war. Indessen hatte dieß weder auf unsre Gesinnungen, noch auf unser Betragen den mindesten Einfluß.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0397 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0397.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 329 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang