BuG:BuG I, A 393
Frankfurt Jan./Apr. 1775

Dichtung und Wahrheit XIX (WA I 29, 158)

Frankfurt Jan./Apr. 1775

Zwar hatte sich meine nähere Vertraulichkeit zu Lili gerade dadurch eingeleitet, daß sie mir von ihrer frühern Jugend erzählte: wie sie von Kind auf durchaus manche Neigung und Anhänglichkeit, besonders auch in fremden ihr lebhaftes Haus Besuchenden, erregt und sich daran ergötzt habe, obgleich ohne weitere Folge und Verknüpfung.

Dichtung und Wahrheit XVII (WA I 29, 37)

Frankfurt Jan./Apr. 1775

Wenn ich die Geschichte meines Verhältnisses zu Lili wieder aufnehme, so hab’ ich mich zu erinnern, daß ich die angenehmsten Stunden, theils in Gegenwart ihrer Mutter, theils allein mit ihr zubrachte. Man traute mir aus meinen Schriften Kenntniß des menschlichen Herzens, wie man es damals nannte, zu, und in diesem Sinne waren unsere Gespräche sittlich interessant auf jede Weise.

Wie wollte man sich aber von dem Innern unterhalten, ohne sich gegenseitig aufzuschließen? Es währte daher nicht lange, daß Lili mir in ruhiger Stunde die Geschichte ihrer Jugend erzählte. Sie war im Genuß aller geselligen Vortheile und Weltvergnügungen aufgewachsen. Sie schilderte mir ihre Brüder, ihre Verwandten, so wie die nächsten Zustände: nur ihre Mutter blieb in einem ehrwürdigen Dunkel.

Auch kleiner Schwächen wurde gedacht, und so konnte sie nicht läugnen, daß sie eine gewisse Gabe anzuziehen an sich habe bemerken müssen, womit zugleich eine gewisse Eigenschaft fahren zu lassen verbunden sei. Hierdurch gelangten wir im Hin- und Wiederreden auf den bedenklichen Punct, daß sie diese Gabe auch an mir geübt habe, jedoch bestraft worden sei, indem sie auch von mir angezogen worden.

Diese Geständnisse gingen aus einer so reinen kindhaften Natur hervor, daß sie mich dadurch auf’s allerstrengste sich zu eigen machte.

Ein wechselseitiges Bedürfniß, eine Gewohnheit sich zu sehen, trat nun ein; wie hätt’ ich aber manchen Tag, manchen Abend bis in die Nacht hinein entbehren müssen, wenn ich mich nicht hätte entschließen können, sie in ihren Cirkeln zu sehen! Hieraus erwuchs mir mannichfaltige Pein.

Mein Verhältniß zu ihr war von Person zu Person, zu einer schönen, liebenswürdigen, gebildeten Tochter; es glich meinen früheren Verhältnissen, und war noch höherer Art. An die Äußerlichkeiten jedoch, an das Mischen und Wiedermischen eines geselligen Zustandes hatte ich nicht gedacht. Ein unbezwingliches Verlangen war herrschend geworden; ich konnte nicht ohne sie, sie nicht ohne mich sein; aber in den Umgebungen und bei den Einwirkungen einzelner Glieder ihres Kreises, was ergaben sich da oft für Mißtage und Fehlstunden!

Die Geschichte von Lustpartien die zur Unlust ausliefen; ein retardirender Bruder mit dem ich nachfahren sollte, welcher seine Geschäfte erst mit der größten Gelassenheit, ich weiß nicht ob mit Schadenfreude, langsamst vollendete, und dadurch die ganze wohldurchdachte Verabredung verdarb; auch sonstiges Antreffen und Verfehlen, Ungeduld und Entbehrung, alle diese Peinen, die in irgend einem Roman umständlicher mitgetheilt, gewiß theilnehmende Leser finden würden, muß ich hier beseitigen ...

Diejenige, die ich nur im einfachen, selten gewechselten Hauskleide zu sehen gewohnt war, trat mir im eleganten Modeputz nun glänzend entgegen und doch war es ganz dieselbe. Ihre Anmuth, ihre Freundlichkeit blieb sich gleich, nur möcht’ ich sagen, ihre Anziehungsgabe that sich mehr hervor; es sei nun weil sie hier gegen viele Menschen stand, daß sie sich lebhafter zu äußern, sich von mehreren Seiten, je nachdem ihr dieser oder jener entgegen kam, zu vermannichfaltigen Ursache fand; genug, ich konnte mir nicht läugnen, daß diese Fremden mir zwar einerseits unbequem fielen, daß ich aber doch um vieles der Freude nicht entbehrt hätte, ihre geselligen Tugenden kennen zu lernen und einzusehen, sie sei auch weiteren und allgemeineren Zuständen gewachsen.

War es doch derselbige nun durch Putz verhüllte Busen, der sein Inneres mir geöffnet hatte, und in den ich so klar wie in den meinigen hineinsah; waren es doch dieselben Lippen, die mir so früh den Zustand schilderten, in dem sie herangewachsen, in dem sie ihre Jahre verbracht hatte. Jeder wechselseitige Blick, jedes begleitende Lächeln sprach ein verborgenes edles Verständniß aus, und ich staunte selbst hier in der Menge über die geheime unschuldige Verabredung, die sich auf das menschlichste, auf das natürlichste gefunden hatte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0393 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0393.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 326 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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