Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 52
Von Friedrich Heinrich Jacobi

12. August 1775, Aachen

| 1 |



Ich habe die Wallfart und das Lied;
u. nie fühlte ich Deinen Geist dem
meinigen näher; Diese Blätter sind mir
Erfüllung u. Verheissung; Lohn des
Glaubens, u. mächtige Stärkung in ihm.
––– Herrlich daß mann aus so weiter
Entfernung einander so wahrhaftig
erscheinen kan, daß die Gegenwart
inniger ist, als es Tausendmal die
leibhaftige war. Wie ich Dich an
mein Herz drüke, lieber Unsichtbarer!


Hierhin reiste ich am Mitwoch v. 8
Tagen zu Betti u. meinen zween jüngsten
Knaben die ich seit 5 Wochen nicht gesehen
hatte. Betti war mir zwo Stunden weit
entgegen gekommen, ohne Bedienten, ohne
Mädchen, allein mit dem kleinen Franz:
auf das lieblichste geschmükt u. den
schönen Buben auf dem Arm, so stand
sie, meiner wartend, da, als mein
Wagen um eine Eke drehte, u. ich sie | 2 |
auf einmal erblikte. Fränzel erkannte mich
gleich, gab Tausend Küsse in die Luft
bis er mich haschen konnte, u. hieng dann
mit solchem süssen Frohlocken mir an Mund
u. Wangen, daß ich es kaum aushalten konn-
te. – Lieber! was ist's doch, daß wir
uns so seelig fühlen, wenn Wohlthun un-
mittelbar v. uns ausgeht, es sey aus Ge-
stalt oder Geist? ––– u. so elend, wenn
––– Ach das beste aus dem Himmel,
Schönheit, Liebe über uns kommt, wie auf
eine Heerstrasse verschlenderte Saat
die verwehet u. zertreten werden muss.


   Nachmittag.


Das Zusammenziehen des Innersten,
das peinliche Krümmen, umv. allen Seiten
ab ein wenig Asche über die Gluth im
Mittel zu schütteln ––– Du kennst es.
––– So schlich ich vorgestern am Abend
eine Anhöhe hinan. Es hatte den ganzen
Tag geregnet, regnete noch da ich ausgieng:
nun verdünnte sich die Luft; sanftes
Sonnenlicht nahm den ganzen Himmel ein,
theilte die Wolken, strahlte nicht sondern
schwebte hernieder; Felder, Wiesen, | 3 |
Gebüsche richteten sich empor u. umzin-
gelten mich; alles, die ganze Natur
ein Bild der Erquikung, des Trostes,
der Verheissung. Meinen Lebensgei-
stern ward's Brüderlich. Ich erreichte
den Gipfel. Nicht mehr mich windend
u. krümmend um Löschung zu samm-
eln, aufgerichtet stand ich, daß die
hallenden Winde die Asche weg
fachten, u. mir die Gluth ins Ange-
sicht flog. ––– Ha! unzerstörbar
Doch, obschon hinfällig. ––– Bangst
mein Herz, zagst, gedenkst in Abgrund
zu schwindeln, willst davon, hinunter,
willst, u. kanst nicht sinken, wirst immer
wieder aufgeschwungen v. unendlicher
Kraft in dir. ––– Ja, neüe Him-
mel, u. neüe Erden, u. da müßen
erst die Sterne fallen u. die Sonne
sich verfinstern u. der Mond zu
Blut werden.


S:  GSA 51/II,2 St. 12 (Abschrift von J. H. Schenk)  D:  JacobiI 2, Nr. 413  B : 1775 Juli 27 und August 7 (vgl. 3, 313)  A : 1775 August 16 (vgl. 3, 314) 

G. sei J. durch das Lied und die Wallfahrt ("Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775") gegenwärtig. - J. halte sich seit dem 2. August in Aachen auf. Über die Begegnung mit seiner Familie. - Reflexionen über ein Erleben der Natur am Abend.

| 1 |

 Ich habe die Wallfart und das Lied; u. nie fühlte ich Deinen Geist dem meinigen näher; Diese Blätter sind mir Erfüllung u. Verheissung; Lohn des Glaubens, u. mächtige Stärkung in ihm. ––– Herrlich daß mann aus so weiter Entfernung einander so wahrhaftig erscheinen kan, daß die Gegenwart inniger ist, als es Tausendmal die leibhaftige war. Wie ich Dich an mein Herz drüke, lieber Unsichtbarer!

 Hierhin reiste ich am Mitwoch v. 8 Tagen zu Betti u. meinen zween jüngsten Knaben die ich seit 5 Wochen nicht gesehen hatte. Betti war mir zwo Stunden weit entgegen gekommen, ohne Bedienten, ohne Mädchen, allein mit dem kleinen Franz: auf das lieblichste geschmükt u. den schönen Buben auf dem Arm, so stand sie, meiner wartend, da, als mein Wagen um eine Eke drehte, u. ich sie| 2 | auf einmal erblikte. Fränzel erkannte mich gleich, gab Tausend Küsse in die Luft bis er mich haschen konnte, u. hieng dann mit solchem süssen Frohlocken mir an Mund u. Wangen, daß ich es kaum aushalten konnte. – Lieber! was ist's doch, daß wir uns so seelig fühlen, wenn Wohlthun unmittelbar v. uns ausgeht, es sey aus Gestalt oder Geist? ––– u. so elend, wenn ––– Ach das beste aus dem Himmel, Schönheit, Liebe über uns kommt, wie auf eine Heerstrasse verschlenderte Saat die verwehet u. zertreten werden muss.

  Nachmittag.

 Das Zusammenziehen des Innersten, das peinliche Krümmen, umv. allen Seiten ab ein wenig Asche über die Gluth im Mittel zu schütteln ––– Du kennst es. ––– So schlich ich vorgestern am Abend eine Anhöhe hinan. Es hatte den ganzen Tag geregnet, regnete noch da ich ausgieng: nun verdünnte sich die Luft; sanftes Sonnenlicht nahm den ganzen Himmel ein, theilte die Wolken, strahlte nicht sondern schwebte hernieder; Felder, Wiesen,| 3 | Gebüsche richteten sich empor u. umzingelten mich; alles, die ganze Natur ein Bild der Erquikung, des Trostes, der Verheissung. Meinen Lebensgeistern ward's Brüderlich. Ich erreichte den Gipfel. Nicht mehr mich windend u. krümmend um Löschung zu sammeln, aufgerichtet stand ich, daß die hallenden Winde die Asche weg fachten, u. mir die Gluth ins Angesicht flog. ––– Ha! unzerstörbar Doch, obschon hinfällig. ––– Bangst mein Herz, zagst, gedenkst in Abgrund zu schwindeln, willst davon, hinunter, willst, u. kanst nicht sinken, wirst immer wieder aufgeschwungen v. unendlicher Kraft in dir. ––– Ja, neüe Himmel, u. neüe Erden, u. da müßen erst die Sterne fallen u. die Sonne sich verfinstern u. der Mond zu Blut werden.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 52, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0052_00055.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 52.

Zurück zum Seitenanfang