Goethes Briefe: GB 2, Nr. 234
An Johann Caspar Lavater

〈Frankfurt a. M. , 21. oder 27. April 1775. Freitag oder Donnerstag〉 → 〈Zürich〉

〈Abschrift〉


〈…〉 Thue nichts gegen Hottingern, bis er reif ist, daß wir das volk auf Einmal sprengen 〈…〉

In Goethes „Ausgabebüchlein“ sind unter dem 5. April 1775 eine Paketsendung an Lavater sowie unter dem 13., 21. und 27. April Briefe an denselben verzeichnet (vgl. AB, 6 und 7). Da Lavater Goethes Brief erst am 4. Mai zitiert (vgl. Überlieferung), nicht aber schon im vorhergehenden Brief an Zimmermann vom 22. April (vgl. Ludwig Hirzel: Goetheana. In: Im neuen Reich 8 [1878]. Bd 2, S. 606), gehört das vorliegende Fragment entweder zu Goethes Brief an Lavater vom 21. oder vom 27. April 1775.

H: Verbleib unbekannt.

h: Zentralbibliothek Zürich. – Zitat in Lavaters Brief an Johann Georg Zimmermann vom 4. Mai 1775.

E: Ludwig Hirzel: Goetheana. In: Im neuen Reich 8 [1878]. Bd 2, S. 606 (vermutlich nach h).

WA IV 50 (1912), 209 (in den „Berichtigungen“ zu Nr 216, nach DjG​2 5, 25).

Textgrundlage: h.

Dass der Brief einen nicht überlieferten Brief Lavaters beantwortet, scheint aus dessen Brief an Zimmermann hervorzugehen (abgedruckt im Anschluss an die folgenden Erläuterungen): Möglicherweise hatte Lavater Goethe eine Replik auf Hottinger angekündigt. – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Postsendungen: 21. oder 27. April 1775 (AB, 6 und 7; vgl. Datierung).

gegen Hottingern] Lavater hatte in der „Allgemeinen theologischen Bibliothek“ (Bd 1. Mietau 1774) anonym einen Beitrag veröffentlicht: „Nachrichten aus der Schweiz“ (S. 365–378); darin waren nicht nur wissenschaftliche Fähigkeiten, sondern auch körperliche und charakterliche Eigenschaften eines jeden einzelnen Zürcher Gelehrten einer öffentlichen Beurteilung unterzogen worden (Beispiel: „​Matthias Stumpf, Pfarrer bey St. Peter, ein schwächlicher, frommer, sanfter, bescheidner, ascetischer Prediger. Ordnung, Deutlichkeit, Popularität und Ruhe machen den Charakter seiner Predigten aus.“ [S. 369.]) Daraufhin war ebenfalls anonym eine Erwiderung erschienen: Sendschreiben an den Verfasser der Nachricht von den Zürcherischen Gelehrten im ersten Bande der allgemeinen theologischen Bibliothek worinn nebst anderm einige Nachrichten von Herrn Diacon Lavater enthalten sind von einem Zürcherischen Geistlichen. Berlin und Leipzig 1775. Verfasser war Johann Jakob Hottinger, reformierter Theologe, klassischer Philologe und Professor für Eloquenz, Latein und Philosophie am Gymnasium Carolinum in Zürich und Lieblingsschüler von Lavaters erklärtem Gegner Johann Jakob Steinbrüchel. In seiner Schrift hatte Hottinger Lavaters religiöse Schwärmerei und Wundergläubigkeit satirisch angegriffen; u. a. heißt es, Lavater möge doch „seinem unbändigen Leibpferdgen, der Imagination, worauf er manchmahl über Stock und Staude, ventre à terre, herumjagt, daß einem Hören und Sehen vergehen mögte, den Kappzaum anlegen. 〈…〉 Und wem könnte man auch dazumahl wol das Lachen verbieten, mein lieber deutscher Leser, wenn er hört, wie Herr Lavater bald an eine allwissende Viehmagd 〈…〉 im Lucerner-Canton, bald an eine Wasserprophetin zu Biel, die ihm den Groß-Sultan im Divan und im Serail, und im Conclave jeden Cardinal in der Bouteille wies; bald an den apostolischen St. Martin von Schierbach, der, nebst vielen gar curieusen Mirakeln, eine Kuhe mit seinem eigenen Schatten geheilt hat, wie ans h. Evangelium glaubt, und beym wunderthätigen Manne in Einem Bette schläft, um – ihn recht beobachten zu können?“ (Sendschreiben, S. 13 und 15.) Über Lavaters „Physiognomik“ heißt es: „Auch zweifle ich nicht, daß Herr Lavater zu viel Gewissenhaftigkeit, und zu viel Respekt für seine Zeitgenossen und ihre Louisd'or habe, als daß er ihnen dafür puren Quark verkaufen wollte.“ (Ebd., S. 20.)


Lavaters Brief an Johann Georg Zimmermann (nach h; vgl. Überlieferung):


Zimmermann!

Necke mich nicht meiner Zedelchen wegen. Ichdenke: Ein Zedelchen werde dir lieber seyn, als keins. u: oft ists ​physisch unmöglich, mehr als ein Zedelchen, oft, auch nur das zuschreiben.

Ichhoffe nun, daß du wied allerley u: unter anderm auch 20–24 Abdrück wied werdest erhalten haben; auch ​Heßens Gedanken. Solltest den Lärm in Zürich sehen! u: – ​doctor Hirzeln (den ich beleidigt zuhaben fälschlich glaubte) wie er, ohne mein Gesuch wie ein Held für mich kämpft! der ​Einzige! ​Breitniger ist mit von d Ligue; ​Bodmer nimmt auch Parthey wid mich. ​Usteri förmlich. ​Steinbrüchel ist an d Spitze. ​Hottinger u: ​Meister sind Waffentrager. – Schonsoll zu Leipzig noch eine viel ärgere Schrift wid mich unter der Preße seyn. Ha! Freünd! Lass sie anprallen – Ichwill ​schweigen – bis ich reden ​muß; dann will ich reden, daß ihnenℓ das reden verlayden soll. „Thue nichts gegen Hottingern, bis er reif ist, daß wir das volk auf Einmal sprengen“ schreibt mir Goethe. das nächste mal mehr!

den 4 May 75.


6 ​Heßens Gedanken] Der Zürcher Theologe Johann Jakob Heß hatte seinen Freund Lavater mit der Schrift „Gedanken über das Sendschreiben eines Zürcherischen Geistlichen“ (Zürich 1775) gegen Hottinger verteidigt. 7 ​Hirzeln] Johann Caspar Hirzel, Stadtarzt und Stadtrat in Zürich. 8–9 ​Breitniger] Johann Jakob Breitinger. 9 ​Bodmer] Johann Jacob Bodmer. 9 ​Usteri] Leonhard Usteri, Theologe und Gymnasialprofessor in Zürich. 10 ​Steinbrüchel] Johann Jakob Steinbrüchel, Theologe und Professor der alten Sprachen in Zürich, Lehrer Hottingers 10 ​Meister] Leonhard Meister, Theologe und Professor der Geschichte und Geographie in Zürich. 11 Schrift] Es konnte nicht ermittelt werden, welche Schrift Lavater meint. Es erschienen, allerdings als „Mscpt. für Freunde“, „Briefe, in der Person des Verfassers vom Sendschreiben etc. an den Verfasser der Nachricht von den Zürcherischen Gelehrten im ersten Bande der allgemeinen theologischen Bibliothek“ (Halle 1776). Verfasser der Schrift war erneut Hottinger, der sich, wiederum satirisch, mit Lavaters Verteidigern (Passavant, Heß) auseinandersetzte. 13 dann will ich reden] Privat hatte Lavater bereits auf Hottinger geantwortet: in Briefen an Breitinger und den als Spiritus rector der Angriffe verdächtigten Steinbrüchel. In der Öffentlichkeit begnügte sich Lavater auf Rat seines Freundes Heß fürs Erste mit einer kurzen Erklärung; es handelte sich um ein „kleines fliegendes Octavblättchen“ (Mt. [d. i. Joachim Heinrich Campe] in der Rezension des „Sendschreibens“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 26 [1775], S. 599; zur Auflösung der Sigle vgl. 〈Gustav C. F. Parthey:〉 Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolai's Allgemeiner Deutscher Bibliothek. Berlin 1842, S. 4 f. und 64). Das Blatt selbst ist nicht überliefert, der Wortlaut der Erklärung jedoch abgedruckt im „Vorbericht“ zu „Herrn Johann Caspar Lavaters 〈…〉 moralischer Charakter entworfen von Feinden und Freunden und Ihm selbst“ (Berlin, Zürich, Frankfurt a. M. 1775). Lavater erklärt, dass der Verfasser des „Sendschreibens“ ein Lügner sei, den er nicht widerlegen wolle: „Ich hab schon oft, schon lange geschwiegen! will weiter schweigen; lieber, tausendmal lieber der ​Verläumdete seyn, als der ​Verläumder.“ (Ebd., o. S.) Allerdings nutzte Lavater einen „Beitrag zur gelehrten Geschichte unsrer Zeit“ in den FGA vom 12. Mai 1775 (Nr 38/39) zu einem Seitenhieb auf seine „Feinde“: „Lachen werden sie! und lügen werden sie – und ich? ich lasse sie lachen, und lasse sie lügen.“ (S. 336.) Im folgenden Jahr meldete sich Lavater dann in einem mit Datum vom 1. April 1776 unterzeichneten umfangreichen „Schreiben an meine Freunde“ zu Wort: „Länger kann ich nicht schweigen; – Zu lange vielleicht hab' ich schon geschwiegen – 〈…〉.“ (Johann Caspar Lavaters Sämtliche kleinere Prosaische Schriften vom Jahr 1763–1783. Bd 3. Winterthur 1785, S. 275.) – Vgl. die Dokumentation dieses Sendschreiben-Streits in: Martin Hürlimann: Die Aufklärung in Zürich. Die Entwicklung des Zürcher Protestantismus im 18. Jahrhundert. Leipzig 1924, S. 183–205.


 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 234 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR234_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 188, Nr 234 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 478–481, Nr 234 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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