BuG: BuG II, A 751
Genf - St. Gotthard - Luzern 6. 11. 1779

An Charlotte v. Stein 6. 11. 1779 (WA IV 4, 133)

Chamonix, Col de Balme, Martinach 6. 11. 1779

Zufrieden mit dem, was uns die Jahrszeit hier zu sehen erlaubte, sind wir reisefertig noch heute in’s Wallis durchzudringen ... Unser Führer schlägt uns einen Weeg über den col de balme vor ... Abends. Glücklich sind wir herüber gekommen ... Wir gingen das Thal hinauf, den Ausguss des Eisthals vorbei, ferner den glacier d’argentiére hin ... In der Gegend wurde Rath gehalten, ob wir den Stieg über den col de balme unternehmen und den Weeg über Valorsine verlassen wollten. Der Anschein war nicht der vortheilhafteste, doch da hier nichts zu verlieren und viel zu gewinnen stund, traten wir unsern Weeg kek gegen die dunkle Nebel- und Wolkenregion an. Als wir gegen den glacier du tour kamen, rissen sich die Wolken aus einander und wir sahen auch diesen schönen Gletscher in völligem Lichte. Wir sezten uns nieder, tranken eine Flasche Wein aus und assen etwas weniges ... Wir stiegen eine Weile gedultig fort ... Wenig dauerte es, so traten wir aus den Wolken heraus, sahen sie in ihrer ganzen Last, unter uns auf dem Thale liegen und konnten die Berge, die es rechts und links einschliessen ausser dem Gipfel des mont blanc’s, der mit Wolken bedekt war, sehen, deuten und mit Namen nennen ... Wir stiegen immer frisch aufwärts ... und wir langten endlich glüklich auf dem col de balme an ... So standen wir auf der Gränze von Savoiien und Wallis. Einige Contrebandiers kamen mit Mauleseln den Berg herauf und erschraken vor uns, da sie an dem Plaz iezo niemand vermutheten. Sie thaten einen Schuss, als ob sie sagen wollten: „damit ihr seht dass sie geladen sind“ – und es ging einer voraus um uns zu recognosciren. Da er unsern Führer erkannte und unsre harmlose Figuren sah, rükten die andre auch näher und wir zogen, mit wechselseitigen Glükwünschen von ein ander vorbei ... Endlich kamen wir in’s Thal, wo der Trientfluss aus einem Gletscher entspringt, liessen das Dörfgen Trient ganz nahe rechts liegen und folgten dem Thale durch einen ziemlich unbequemen Weeg, biss wir endlich gegen sechse hier in Martinach auf flachem Wallisboden angekommen sind, wo wir uns zu weitern Unternehmungen ausruhen wollen.

Briefe aus der Schweiz II (WA I 19, 256)

Martinach 6. 11. 1779

Wir sind im Wirthshause [in Martinach] untergekrochen, sehen zum Fenster hinaus die Wolken wechseln, es ist uns so heimlich und so wohl, daß wir ein Dach haben, als Kindern, die sich aus Stühlen, Tischblättern und Teppichen eine Hütte am Ofen machen ... Aus der Karte wissen wir, daß wir in dem Winkel eines Ellenbogens sitzen, von wo aus der kleinere Theil des Wallis, ungefähr von Mittag gegen Mitternacht, die Rhone hinunter sich an den Genfersee anschließt, der andere aber und längste, von Abend gegen Morgen, die Rhone hinauf bis an ihren Ursprung, die Furka, streicht. Das Wallis selbst zu durchreisen macht uns eine angenehme Aussicht; nur wie wir oben hinaus kommen werden, erregt einige Sorge. Zuvörderst ist festgesetzt, daß wir, um den untern Theil zu sehen, morgen bis St. Maurice gehen, wo der Freund [v. Wedel], der mit den Pferden durch das Pays de Vaud gegangen, eingetroffen sein wird. Morgen Abend gedenken wir wieder hier zu sein, und übermorgen soll es das Land hinauf ... Am liebsten gingen wir über die Furka auf den Gotthard, der Kürze wegen und weil der Schwanz durch die italiänischen Provinzen von Anfang an nicht in unserm Plane war; allein wo mit den Pferden hin? die sich nicht über die Furka schleppen lassen, wo vielleicht gar schon Fußgängern der Weg durch Schnee versperrt ist. Wir sind darüber ganz ruhig und hoffen von Augenblick zu Augenblick wie bisher von den Umständen selbst guten Rath zu nehmen. Merkwürdig ist in diesem Wirthshause eine Magd, die bei einer großen Dummheit alle Manieren einer sich empfindsam zierenden deutschen Fräulein hat. Es gab ein großes Gelächter, als wir uns die müden Füße mit rothem Wein und Kleien, auf Anrathen unsers Führers, badeten und sie von dieser annehmlichen Dirne abtrocknen ließen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG II, BuG02_A_0751 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG02_A_0751.

Entspricht Druck:
BuG II, S. 174 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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