BuG: BuG II, A 733
Murten - Lausanne 23. 10. 1779

An Charlotte v. Stein 23. 10. 1779 (WA IV 4, 93)

Lausanne, Vevey 23. 10. 1779

Wir fuhren nach Veway ...

Wir badeten im See, assen zu Mittag fuhren nach Hause, puzten uns, fuhren zur Herzogin von Curland, strichen uns balde, und mich führte der Geist wieder zur M. Branconi. Eigentlich darf ich sagen, sie lies mir durch Mathäi der bey ihrem Sohn ist gar artig sagen wenn ich noch eine Stunde sie sehen könnte würd es ihr recht seyn. Ich blieb zum Essen. Am Ende ist von ihr zu sagen was Ulyss von den Felsen der Scylla erzählt. „Unverlezt die Flügel streicht kein Vogel vorbey, auch die schnelle Taube nicht die dem Jovi Ambrosia bringt, er muss sich für iedesmal andrer bedienen.“ Pour la colombe du jour elle a echappé belle doch mag er sich für das nächstemal andrer bedienen.

H. Funck nach K. J. K. M. Matthaei (Die Persönlichkeit 1, 174)

Lausanne 23. 10. 1779

Am Abend des 22. Oktober 1779 sah und sprach Goethe die schöne Frau [v. Branconi] zum erstenmal. Tags darauf ließ sie ihm durch Mattei sagen, wenn er noch eine Stunde sie sehen könnte, würde es ihr recht sein. Goethe blieb bei diesem zweiten Besuche zum Essen. Was er und Branconi über Tisch miteinander sprachen, hat Mattei aufgezeichnet. Nach diesen (ungedruckten) Aufzeichnungen war der Inhalt des Gespräches im wesentlichen folgender:

Goethes und des Herzogs von Weimar vielbesprochene enge Vertraulichkeit veranlaßte Matteis Gebieterin, ihren Gast zu fragen, woher es käme, daß ein Fürst Munterkeit und Vertraulichkeit kennte. Goethe sagte u. a., es gebe Leute, besonders die Fürsten, mit denen man immer in gleicher Linie gehe, aber dazwischen bleibe stets ein Graben, über den man nicht hinüber könnte. Ferner: bei gewissen Menschen wollte ihm die Sprache nicht fort; man hätte sogleich ausgeredet, man könnte nicht anhaken. Goethe kam auf Zimmermann in Hannover zu sprechen, mit dem er nicht zusammengehen könnte, wegen des Gemisches von Schwäche und Stärke, das er nicht liebe. Er könnte den Poltron in nichts ausstehen – item auf die unglückliche Gewohnheit, Wohltaten ausüben zu wollen, indem man andere in Kontribution setzt. Wenn ich nicht selbst Wohltaten erweisen kann, sagte Goethe, bin ich nicht bestimmt, Wohltaten zu erweisen. Des weiteren redete Goethe von dem fürtrefflichen Menschen Herder, dessen würdevolles Amt nicht litt, dem heitern Welttreiben der Weimarer Gesellschaft teilnehmend sich hinzugeben. Goethe sprach von der Art, sich in Weimar die Zeit zu vertreiben, die doch einmal müßte vertrieben werden – von der Glückseligkeit des Schlafs, wo er jederzeit völlig ausruhe – vom Kaffee und dessen unbarmherziger Verdauung. Er erzählte von seiner Reise mit dem Herzog, vom Staubbach bei Lauterbrunnen, angesichts dessen sein „Gesang der Geister über den Wassern“ entstanden. Der Staubbach im Lauterbrunner Tal wäre ihm das höchste Ideal der Ruhe, sein Fall und Wasserstaub hätte ihn mit einem seligen Gefühl überfallen; überhaupt wenn der Mensch sich nur stets der Ruhe überließe, würde er alles in der Natur ansehen, wie Natur es gibt. – Es kam das Gespräch auf Lavater; Goethe sagte, er wäre in seiner Art der einzige Mann. Von dem Fürsten von Dessau ward gesprochen, auf den Karl August unter allen seinen fürstlichen Bekannten am meisten hielt; Goethe sagte: man vermutet nicht in dieser langen Figur mit schwarzen Haaren die sanfte Seele, wenn nicht sein Auge eine gewisse Schwermut verkündigte. Darauf unterhielt man sich darüber, warum Schwermut so sehr gefalle, warum Traurigkeit so sehr einnehmend sei. Doch nur für diejenigen, bemerkte Goethe bedeutsam, die selbst dieses Labsal mit sich in ihrem Busen herumtrügen. Branconis Charakter neigte zur Schwermut, und von Goethe wissen wir, daß auch ihm, dem Lebensfrohen, vermöge der wunderbaren Mischung seiner Natur die trübsinnige Melancholie nicht fremd war. Im Weggehen sagte Goethe zu Mattei: „Ich danke Ihnen und sagen Sie ihr, ich danke ihr für das Gute, das ich bei ihr genossen habe. Es ist eine treffliche Frau von Geist und Verstand. Nun sehe ich ein, warum Sie, Mattei, niemand in Lausanne kennen wollen. Jesus! Was könnte diese Frau aus einem machen!“

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG II, BuG02_A_0733 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG02_A_0733.

Entspricht Druck:
BuG II, S. 160 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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