Goethes Briefe: GB 2, Nr. 214
An Johann Gottfried und Caroline Herder

〈Frankfurt a. M. 〉, 25. März 1775. Samstag → 〈Bückeburg〉


Hier ​ 1 lieber Bruder von Lavatern ein herrlicher ​Füseli Brief Was für eine Glut und Inngrimm in dem Menschen ist. Hamans Prolegomena haben auch dem was implicite Krafft in mir ist sehr wohl gethan. Schick mir doch was, schreib mir doch was von dir, was es auch sey! Wär's eine abgerupfte Papillotte – und besonders eine Silhouette deines Buben. Es sieht aus als wenn die Zwirnsfädgen an denen mein Schicksaal hängt, u. die ich schon so ​ 2 lange in rotirender Oscillation auf und zutrille, sich endlich knüpfen wollten. Ubrigens machen mich allerley Umstände ziemlich zahm, ohne mir doch den guten iungen Muth zu nehmen. Caroline guten Morgen. liebe Schwester

dℓ. 25. Merz 1775.

G.

  1. l ​Hier​ ↑
  2. l ​so​ ↑

H: Biblioteka Jagiellońska Kraków (Krakau), Autographensammlung Goethe, bis 1945 Preußische Staatsbibliothek Berlin. – 1 Bl. 10,8 × 17 cm, Bordüre aus gereihten Krönchen (vgl. Mick, Nr 1), 1 S. beschr., egh., Tinte.

E: Aus Herders Nachlaß 1 (1856), 50 f., Nr 10.

WA IV 2 (1887), 249, Nr 309 (nach E; Hinweis auf H und Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 212).

Abschrift von Johann Heinrich Füßlis Brief an Johann Caspar Lavater von März 1775 (vgl. 179,17 ).

Ein Bezugsbrief ist nicht bekannt. – Herder antwortete offenbar nicht, denn im Brief vom 1. April 1775 ( Nr 221 ) bat Goethe Herder, er möge ihm doch manchmal ( 182,1 ) schreiben.

ein herrlicher ​Füseli Brief] Der in Rom lebende Schweizer Maler Johann Heinrich Füßli hatte im März einen Brief an Johann Caspar Lavater geschrieben, von dem Goethe in einem nicht überlieferten Brief eine Abschrift erhielt. Weitere Abschriften gingen an Merck und Johann Georg Zimmermann, der sich „unendlich vergnüget“ darüber zeigte (Brief an Herder, 13. April 1775; Aus Herders Nachlaß 2, 348). Der Brief ist abgedruckt in: Merck, Briefe​1, 58–62. In dem Brief lehnt Füßli Klopstocks „erhabene Andachtsoden“ und die „teutonische Mythologie“ entschieden ab (ebd. S. 58 und 59). Einen Eindruck von Glut und Inngrimm ( 179,18 ) des Briefschreibers, wie Goethe es empfand, mag folgende Briefstelle vermitteln: „Die facultas lacrimatoria, dieses Schönpflästerchen der deutschen Poesie von ​Klopstock's Höhe bis zu ​Dusch herab, die telescopisirten Augen, unnennbaren Blicke, und der ganze theologische Hermaphroditismus sind vergänglichere Lumpen, als die, auf welche sie gedruckt sind. Fühlet, wenn ihr wollt, dergleichen; ich wähnte auch, es zu fühlen, wie ich ein Kind war; aber es ist stürzwerthe Unverschämtheit, es Andern vorzutrommlen, und wenn es in euern heiligen Gedichten ist, so sage ich mit Götz von Berlichingen: Für die Majestät der Religion habe ich alle schuldige Hochachtung, aber Ihr, Herr Hauptmann, wie Ihr heißt – leckt mich im A… – und schlage das Fenster zu.“ (Ebd., 60.) Auch Herder gefiel der Brief so, dass er ihn an Johann Georg Hamann weiterschicken wollte (vgl. Brief an Hamann, 18. Juni 1775; HB 3, 194).

Hamans Prolegomena] 〈Johann Georg Hamann:〉 Christiani Zacchaei Telonarchae Προλεγόμενα über die neueste Auslegung der ältesten Urkunde des menschlichen Geschlechts. In zweyen Antwortschreiben an Apollonium Philosophum. o. O. 1774 (vgl. Ruppert, 133, Nr 942). Vgl. auch zu 161,20–21 .

Papillotte] Franz. papillotte: Haar-, Lockenwickel.

Silhouette deines Buben] In Nr 238 bedankt sich Goethe für die Zusendung des Schattenrisses von Herders fast sieben Monate altem Sohn Gottfried (vgl. 190,6 ).

in rotirender Oscillation] In kreisender Bewegung, Schwingung.

zutrille] Trillen (auch: drillen): „im Kreise herum drehen“ (Adelung 1, 1553).

sich endlich knüpfen] Anspielung auf Goethes Beziehung zu Elisabeth (Lili) Schönemann, mit der er sich im April verlobte (vgl. die einleitende Erläuterung zu Z 1 ).

Umstände] Darunter vielleicht der Ärger mit Wieland wegen der „Prometheus“-Farce von Heinrich Leopold Wagner (vgl. zu 180,1 ).

Caroline] Herders Frau.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 214 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR214_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 179, Nr 214 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 448–450, Nr 214 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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