BuG: BuG II, A 765
Zürich 20. 11. 1779

Barbara Schultheß an Goethe 19. 11. 1796 (GJb 13, 16)

Zürich 19. 11. 1779 oder 20. 11. 1779

Ich feyre heut wieder einen 19 9b der dich im Jahr 79 zu mir brachte – er fällt just wie damals auf einen Samstag ... es thut mir wohl an meinem Herzen zu fühlen dass ich dich mit den gleichen gefühlen heut vor mir sehen würde wie vor den vielen Jahren.

J. J. Bodmer an Schinz 23. 11. 1779 (GJb 5, 208)

B2 201

Zürich 20. 11. 1779 oder 22. 11. 1779

Gestern den 20sten [sic] November ein wenig nach 9. Uhr bracht Lavater Weimarn und Göthen mit noch einem Edelmann [am Rand: Und sonst keiner von denen, die wir hier haben] zu mir. Der Herzog sagte gleich, dass er käme, den Vertrauten Homers zu begrüssen. Göthe küsste mich, fragend, ob ich Göthen noch kennte. Beide sagten mir viel Fleurettes über meinen Homer. Göthe: er sey ihr Reisegefährte; er habe die Odyssee ex professo auf dem Lemanischen See gelesen, sich mit Ulysses auf die Beschwärden in den Alpen und der glaçiers zu stärken. Auf den Alpen habe er den Homer den Alpinern vorgelesen. Er [am Rand: Herr von Wedel, des Herzogs Günstling] lasse sich laut vorlesen. Erst izt habe man ihn, und wisse, was er sey. Leute von allen Ständen und jedem Alter können ihn verstehn. Man müsse griechisch können, Stolbergs Homer zu verstehn. Der Herzog fragte, wie lange ich daran gearbeitet habe. Ich sagte: nicht achtzig Jahre, wie jemand gesagt hätte, aber wol 60. Jahre hab ich mit ihm Bekanntschaft gehabt. Mit Apollon hab ich erst im vorigen Jenner, meinem ein und achtzigsten Winter, die genaue Freundschaft gemacht, welche mich bewogen, ihn den Deutschen zu geben. Ich hoffete, der Herzog habe auf den glaçieres eben so wenig gefroren, als ich bey meinem Homer. Da er sich über mein lebhaftes Alter wunderte, sagte ich, die Recensenten werden meinen Homer kalt finden, wenn sie auch nichts weiter davon wüssten, als dass achtzig Jahre kalt geben. Ich wünschte, dass der Herzog im achtzigsten Jahre noch friere und mehr als auf den Alpen. Ich sey doch zu diesen angehäuften Jahren gelanget, ohne dass ich die gute Vorsehung dafür ersucht habe. Stolbergs Ilias und die Abschrift des Gedichtes von den Nibelungen lagen auf meinem Pult. Ich sagte, Göthe möchte mir Zeugniss geben, dass ich in Stolbergs Ilias studirte; ich könnte ihn doch nur per intervalla lesen, er schlüge mich zurücke. Der Graf müsse mir dieses verzeihn, wie ich ihm verzeihe, wenn mein Homer ihn, oder er selbst diesen hinter sich würfe. Es sey natürlich, dass der meine ihn so wenig annehme [einnehme?] als der seine mich. [Am Rand: Ich zweifelte, sagte ich, dass Stolberg meinen Homer lese. Er und Klopstok haben ihn vorigen Frühling noch nicht gelesen; und Klopstok habe sich von den Recensenten abschreken lassen, meine politischen Dramen zu lesen. Aber warum, fuhr ich fort, hat Klopstok sich nicht an Homer gemacht.] Warum hat Klopstok sich nicht an Homer gemacht, der Mann war dafür nicht zu gross, der so klein war, für seine Zesianische Rechtschreibung in Enthusiasm zu kommen. Klopstok sollte aus den ätherischen Gegenden in den Staubball zurückgekommen seyn, nicht mit [unleserlich] über Silben sey der Kopf zu zerstossen, sondern seyen irdische Stoffe in ein Epicum zu arbeiten. Er sollte eher in den Himmeln über dem Mond und der Sonne geblieben seyn. und Lavater noch erwartet haben, der schon schärfere und genauere Aussichten in die Ewigkeit gethan habe. Göthe sagte: Klopstok habe eine Buchdrukerey; er möchte durch seine chimärische Orthographie die schon gedrukten Bücher unnüze machen, damit er sagen könne, er druke nur ungedrukte Bücher. Lavater sagte, Klopstok sollte die Pension von dem Margrafen nicht mehr annehmen, nachdem er nicht in Carlsruhe leben wollte. Göthe, mit einiger Wärme: er wäre so gewohnt genug, dass man Pensionen in der Entfernung nehme. Der Margraf habe Klopstok mit Etiquette und mit Aufwartungsdiensten excedirt, dass es jedem braven Mann unausstehlich seyn würde. Er verwunderte sich, da wir ihm sagten, dass Klopstok ein Verlangen habe, ein Bürger in Zürich zu werden. Der Herzog sagte, dass Wieland, der vor Jahren bey mir gelebt habe, izt bey ihm lebte. Ich sagte: freylich, aber izt wüsste ich nicht, ob ich sagen sollte, dass Wiel. mir oder ich ihm abgestorben sey. Ich sey ihm ungefähr in dem Sinn abgestorben, wie man den Sünden absterbe. Die Rede fiel auf die Poeten des altschwäbischen Zeitpunkts. Ich lachete, dass Klopstok dem deutschen Vaterlande mit der skaldischen verlohrnen Poesie Ehre machen wollte, und die allemannische darüber verkennete. Dann bat ich den Herzog, dass er Veldigs Eneas, der in der Sachsen-Gothaischen Bibliothek ligt, vor dem Untergange retten möchte. Lavater schrieb es auf Göthens Tabletten. Ein Kupferstich von J. J. Rousseau hängt an der Wand meines Zimmers. Lavater sah den grossen Mann an den Zügen, doch kannte er einen andern Stich, welcher noch stärker spräche. Ich sagte, Rousseau würde izt wol an einem kühlem Plaz seyn als Voltaire; ich fürchte sehr, dieser brennete. Lavater warnete mich, dass ich nicht verdammen sollte. Ich sagte, Voltaire hätt’ immer Straf und Züchtigung verschuldet; ich hätt ihn auch nicht zu ewigem unauslöschlichem Feuer verdammt. Er gab mir zu, dass er wol möchte in ein Reinigungsfeuer gesezet seyn. Er erzählte, Voltaire habe sich geärgert, dass des Zimmermanns Sohn in den Ruf gekommen sey, den er selbst mit seinen äussersten Bemühungen nicht habe erreichen können. Ich erzählte, man habe mir vielmals gesagt, ich sehe Voltaire ähnlich. Lavater hatte die Güte, zu sagen, dass die Ähnlichkeit nur in Zügen des hohen Alters unser beiden gewesen sein möchte; aber in meinen Augen, Lippen u.s.w. sey eine Sanftmuth, eine Stille, von welcher Voltaires Kopf nicht einen Schatten habe. Ich klagte über die Barbarey der Abtey S. Gallen, und Göthe erzählte mit Wärme von einem Griechen, der gewusst habe, dass in einer Klosterbibliothek eine alte griechische membrana lag, die Bücher seyen in einem Chaos gelegen, mit Noth haben die Mönche ihm erlaubt, sie zu erlesen, aufzustellen und zu catalogisiren. Und so habe er den Code aufgespürt. Als wir standen, stellte Lavat. Göthe vor mich und sagte, ich solle die Augbraunen, die Stirne, den Mund (:alles in seinen Kunstwörtern:) beguken, ob ich darinn nicht einen bösen Menschen erblike. Ich gab die Antwort: ich sehe da nichts fürchterliches, ich hielt ihn doch für tapfer und ich freute mich, den tapfern Mann zum Freunde zu haben. Zuweilen geschähen mir Unfugen, die mir einen Beschüzer nothwendig machten. Göthe solle mein Ritter seyn. Der Herzog redete viel, ganz sanft und vertraulicher als einer unserer Zunftmeister, Göthe weniger und ernsthaft. Ich sagte dem Herzog, dass meine achtzig Jahre mich izt weniger drüketen, da sie mich in die Bekanntschaft mit Ihrer Durchlaucht gebracht haben. An Ihrem Hofe hab ich noch einen Freund, ohne Zweifel regis ad exemplum; der Hr. Superintendent Herder, der selten und nur apokryphisch lobet, gab mir das Zeugniss, dass ich Homer lang und ehrlich gedienet habe. Ich sagte zu Lavater, er würde sie doch auch zu Hr Chorherr Gessner führen. Göthe fuhr auf: Zu Gessner! Lavater: nicht zu dem Poeten, zu dem Physikus. Von der Noachide, der Calliope ward kein Wort gehört. Das verdross mich ein wenig, doch machte es mir den Geschmak dieser Herren verdächtig. Ich habe ihnen auch gesagt, dass ich viel Dinte vergossen habe, doch nicht in der ersten Begierde nach grossem Namen, mehr zur Beschäftigung; man habe in achtzig Jahren viele unbeschäftigte Stunden. Also hab ich meinen Lohn empfangen. Wenn meine Werke doch nüzeten oder belustigten, so hab ich keine hörnene Fibern, dass es mir nicht Freude mache. Es war nicht weit von 11 Uhr, als sie von mir schieden. Sie giengen in der Fortification nach dem Wolfbache. Abends desselben Tags schikte ich Hrn. Lavater ihnen zu übergeben: Apollons Argonautica dem Herzog; die literarischen Nachrichten und Evadnen und Kreusa Göthen. Auch erwähnte dieser nicht mit einer Silbe der politischen Dramen, die ich ihm im Sommer 1776 zugefertigt hatte.

J. J. Bodmer an Schinz 26. 10. 1779 (GJb 5, 208)

Zürich 20. 11. 1779 oder 22. 11. 1779

Izt schwebet mir das liet der Nibelungen vor der Stirn ... Ich kann keinem Zürcher die Wärme einhauchen, die ich selbst für die altschwäbische Poesie habe ... Künftige Woche werden wir Weimar und Göthe bey uns haben ... Ich denke Göthen allein mit der altschwäbischen Poesie zu unterhalten.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG II, BuG02_A_0765 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG02_A_0765.

Entspricht Druck:
BuG II, S. 193 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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