BuG: BuG II, A 2228
Jena 18./20. 11. 1784

An Carl August 26. 11. 1784 (WA IV 6, 398)

Jena 18./20. 11. 1784

Bey Knebeln bin ich einigemale gewesen, er findet sich nach und nach in die Einsamkeit und in die Naturlehre. Diese Wissenschafft hoffe ich soll ihm von grosem Nutzen seyn ... Im Anfange kam sie ihm fremd vor da er nur an Dichtkunst und Geisteswesen gewöhnt war, ietzt aber wird ihm nach und nach der Sinn aufgeschlossen mit dem man die alte Mutter verehren muß.

Knebel an Henriette v. Knebel 28. 11. 1784 (Düntzer4 S. 31)

Jena 18./20. 11.(?) 1784

Daß wir nicht überall ganz glücklich sind ... das ist nicht zu vermeiden. Erlaube mir, daß ich in dem, was ich Dir sagen will, mir Goethens Weisheit etwas zu Hülfe rufe! Er hat sie mir zwar weniger gesagt als angedeutet, aber ich verstehe ganz, daß es seine rechte Meinung sei, und sie wird sich auch Dir, als eine richtige und wahrheitsvolle schon jetzt andeuten und stets mehr aufklären.

Der Mensch nämlich ist weder zum Glück noch zum Unglück geschaffen; er ist geschaffen, daß er da sei; die Ordnung der Dinge rief ihn hervor. In dieser Ordnung ist er ausgerüstet zum Glück oder Unglück. Das Schicksal, das ihn von außen treibt, legt ihn, wenn ich so sagen darf, zwischen wechselseitige Schalen. Jedem ist nach seinem Maße eine gute Portion Glück zugetheilt, das er sich nicht gegeben hat, das ihm zufällig, gleichsam aus der Hand des Schicksals, kömmt, wie Du mir, Liebe – und so vieles andres Gute nebenher! Und auch ist in dem Leben eine fast unvermeidliche Portion Elend, das die Besten und Glücklichsten auch gefühlt haben. Von der verschiedenen Mischung dieser beiden Dinge können wir nichts sagen, als daß es so ist. In Betracht der Sache selbst finden wir, daß selbst dem Unglücklichsten vor unsern Augen oft da Hülfe, Glück und Genuß zugetheilt ist, wo wir es nicht errathen, kaum selbsten für ihn fühlen können, d. h. uns nicht durch Vorstellung den Genuß zueignen können, den ihm manche Sache gibt, die uns entweder zu gering scheint oder gänzlich außer dem Kreise unsrer Genießungsart liegt – als z. B. die Zufriedenheit, die ein Mathematiker bei einem schwer aufgelösten Problem findet, ein Armer oder Kranker bei einer geringen Wohlthat oder Erleichterung u. s. w. – und daß hingegen auch wieder dem Glücklichsten ein unvermeidlich Elend kommt, wo er es nicht sah, noch beinah voraussehen konnte. Was in Beziehung auf den Menschen selbst davon zu halten sei, so scheint dieses Gesetz der allgemeinen Nothwendigkeit, wie wir es einstweilen nennen wollen, ihn, moralisch wenigstens, in einer steten Achtsamkeit und Spannung zu erhalten. Er hat stets Ursache zu hoffen und zu fürchten; das Unwahrscheinlichste ist doch möglich, und hat sich schon ereignet, und das Glück, worauf er am sichersten baute, ist vor seinen Augen verschwunden. Die Abwechslung scheint sogar in dem gemeinen Laufe der Dinge nothwendig.

Durch diese beiden Schicksale oder Gesetze der Nothwendigkeit geht nun, wenn ich so sagen darf, ein elektrischer oder magnetischer Faden, der das Gute von den Dingen zu erhalten sucht und an sich reißt, und das Böse von sich stößt. Dies ist die Kraft des Geistes. Sie beweist sich darin, daß sie das Gute fixirt und dauerhaft macht, und deshalb, obgleich allem zufälligen Glück bereit, dennoch nichts zuläßt, was ihr das Gefühl davon zu einer andern Zeit benehmen könnte oder sie überhaupt zu entkräften oder zu schwächen vermöchte. Dadurch erhält sie, daß sie in dem glücklichen Strome oder in der Flut des Daseins leicht sich und gemächlich und ihrer bewußt erhält, sind hingegen die Wasser enger und trüber und sinken zur Ebbe, so wird sie nicht so leicht mit vom Ufer weggetrieben. Sie hat sich vieler dauerhaften Dinge bemeistert, die ihr das Schicksal nicht nehmen kann, ihr Geist selbst ist frei und thätig, wie Ulyß in den Meereswogen; sie hat ruhig dulden gelernt und wird also zur Zeit des zögernden Schicksals nicht erdrückt, und was sie nun noch verlieren kann, sind meist nur Spiele, die sie nie anders betrachtet, und die sich zur Zeit des Glücks gar leicht wieder anhängen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG II, BuG02_A_2228 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG02_A_2228.

Entspricht Druck:
BuG II, S. 501 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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