Tagebuch­eintrag: GT, Nr. 14
30. Oktober 1775, Montag, Weinheim

Ebersstadt1 d. 30 Oktr 1775.2

Bittet daß eure Flucht nicht geschehe im Winter, noch am Sabbath: Lies mir mein Vater zur Abschiedswarnung auf die Zukunft3 noch aus dem Bette sagen! – Diesmal rief ich aus ist nun ohne mein Bitten Montag Morgends sechse, und was das übrige betrifft so fragt das liebe unsichtbaare Ding das mich leitet und schult, nicht ob und wann ich mag. Ich packte für Norden, und ziehe nach Süden, ich sagte zu, und komme nicht, ich sagte ab und komme! Frisch also die Thorschliesser4 klimpern vom Burgemeister weg, und eh es tagt5 und mein Nachbaar Schuflicker seine Werckstäte und Laden öffnet: fort. Adieu Mutter!6 – Am Kornmarckt7 machte der Spenglersiunge rasselnd seinen Laden zurechte, begrüste die Nachbaars magd in dem dämmrigen Regen. Es war so was ahndungsvolles auf den künftigen Tag8 in dem Grus. Ach dacht ich wer doch – Nein sagt ich es war auch eine Zeit – Wer Gedächtniss hat sollte niemand beneiden. – – Lili Adieu Lili zum zweitenmal! Das erstemal schied ich noch hoffnungsvoll unsere Schicksaale zu verbinden! Es hat sich entschieden – wir müssen einzeln unsre Rollen ausspielen. Mir ist in dem Augenblick weder bange für dich noch für mich, so verworren es aussieht! – Adieu – Und du!9 wie soll ich dich nennen, dich die ich wie eine Frühlings blume am Herzen trage! Holde Blume sollst du heissen! – Wie nehm ich Abschied von dir? – Getrost! denn noch ist es Zeit! Noch die höchste Zeit – Einige Tage später!10 – und schon – O Lebe wohl – Bin ich denn nur in der Welt mich in ewiger unschuldiger Schuld zu winden – – – – – – Und Merck wenn du wüsstest dass ich hier der alten Burg nahe sizze, und dich vorbeyfahre der so offt das Ziel meiner Wandrung war. Die geliebte Wüste, Riedesels Garten den Tannenwald, und das Exerzierhaus – Nein Bruder du sollst an meinen Verworrenheiten nicht theilnehmen, die durch Theilnehmung noch verworrner werden.

Hier läge denn der Grundstein meines Tagbuchs! und das weitere steht bei dem lieben Ding das den Plan zu meiner Reise gemacht hat.

Ominose Uberfüllung des Glases. Projeckte, Plane und Aussichten.

Weinheim Abends sieben. – Was nun aber eigentlich der politische, moralische, epische oder dramatische Zweck von diesem Allen? – – Der eigentliche11 Zweck der Sache meine Herren |: hier belieben alle vom Minister der12 im Rahmen13 seines Herrn Regimenter auf gut Glück mitmarschiren lässt, biss zum Brief und Zeitungs träger ihre Nahmen einzuzeichnen :| NB. von dem Rangstreit der Brief und Zeitungsträger, nächstens :| ist, dass sie gar keinen Zweck hat – Soviel ist’s gewiss, treffliches Wetter ists Stern und Halbmond leuchten, und der Nachmittag war trefflich. Die Riesengebeine unsrer Erzväter aufm gebürg, weinreben zu ihren Füssen Hügel abgereiht, die Nussallee, und das Thal den Rhein14 hin. voll keimender frischer Wintersaat, das Laub noch15 ziemlich voll und da einen Heitern Blick untergehender Sonne drein! – – Wir fuhren um eine Ecke! – Ein mahlerischer Blick! – wollt ich rufen. Da faßt ich mich zusammen und sprach! sieh ein Eckgen wo die Natur in gedrungner Einfalt uns mit Lieb und Fülle sich um den Hals wirft. Ich hatte noch viel zu sagen möcht ich mir den Kopf noch wärmer machen – Der Wirth enschuldigte sich wie ich eintratt dass mir16 die Herbst Butten und Zuber im Weeg stünden, wir haben sagt er eben dies Jahr Gott sey Dank reichlich eingebracht. Ich hies ihn gar nicht sich stört,17 denn es sey sehr selten dass einen der Seegen Gottes innkomodire – Zwar hatt ich’s schon mehr gesehn – Heut Abend Bin ich kommunikativ, mir ist als redet ich mit Leuten da ich das schreibe – Will ich doch allen Launen den Lauf lassen.18

  1. Ebersdorf > Ebersstadt  ↑
  2. danach eine Zeile leer ↑
  3. auf die Zukunft erg ↑
  4. Thorschließer > Thorschliesser  ↑
  5. Tag → tagt  ↑
  6. Gedankenstrich nach Mutter! erg ↑
  7. Kornmart → Kornmarckt  ↑
  8. CTg → Tag  ↑
  9. Ausrufezeichen nach du erg ↑
  10. Ausrufezeichen nach später erg ↑
  11. ein → eigentliche  ↑
  12. die → der  ↑
  13. wohl gemeint Nahmen  ↑
  14. Rein → Rhein  ↑
  15. mi → noch  ↑
  16. mich → mir  ↑
  17. gemeint stören  ↑
  18. danach Rest Blattes, ca ein Achtel, leer ↑

H: BNU MS/2478


Das Tagebuch-Blatt ist von Goethe eigenhändig geschrieben. Das beidseitig beschriebene Doppelblatt (200 × 230 mm) befindet sich in einem in Pergament eingebundenen und archivalisch als »Lettres inédites 1770–1775« bezeichneten Konvolut (215 × 345 mm) mit Briefkonzepten Goethes, darin als Blatt 25 linksseitig aufgeklebt auf dem eingebundenen Blatt 25 (210 × 340 mm).


Doppelblatt aus holzfreiem Schreibpapier. Schwarze, ins Bräunliche verblaßte Tinte. Von unbekannter Hand mit Bleistift Vs rechts oben »25«, Rs rechts unten die alte Signatur »9800« und Stempel mit der Aufschrift »Kaisserliche Universitäts- und Landesbibliothek Strassburg«.


D:

Adolph Schöll: Briefe und Aufsätze von Goethe aus den Jahren 1766 bis 1786. Weimar 1857. S. 158–161

WA III 1, 8–10, udT: Reisetagebuch. (im Inhaltsverzeichnis udT: Reisetagebuch October 1775)

Bittet bis Sabbath] Matthäus 24, 20.

Flucht] Aus der zeitlichen Verzögerung der seit Mitte Oktober 1775 erwarteten offiziellen Einladung nach Weimar schloß Goethe auf ein mögliches Scheitern des Plans und brach, auf Anraten seines Vaters, zu einer Reise nach Italien auf. Siehe »Dichtung und Wahrheit«, Zwanzigstes Buch (DuW 1, 646; WA I 29, 185): In einer so wichtigen Sache zweifelnd und zaudernd, ging ich endlich darauf ein, daß wenn zu einer bestimmten Stunde weder Wagen noch Nachricht eingelaufen sey, ich abreisen, und zwar zuerst nach Heidelberg, von dannen aber nicht wieder durch die Schweitz sondern nunmehr durch Graubündten oder Tyrol über die Alpen gehen wolle. Siehe Hermann Dechent nach Jacob Ludwig Passavant (BG 1, 377): »In Frankfurt bereitete Goethe ihm ⟨Passavant⟩ eine seltsame Überraschung, indem er ihn am 29. Oktober Abends geheimnisvoll zu einem Stelldichein bestimmte, wobei er ihm mitteilte, dass er im Begriff stehe, plötzlich nach Italien zu reisen, – ein Plan, der freilich nicht ausgeführt wurde, da der Dichter diesmal nur bis Heidelberg gelangte.« Abreise Goethes und Philipp Seidels am 30. Oktober 1775 von Frankfurt. Am 3. November 1775 reisten Goethe und Philipp Seidel mit dem verspätet eingetroffenen Weimarer Vermittler Johann August von Kalb von Frankfurt nach Weimar.

mein Vater zur Abschiedswarnung auf die Zukunft] Johann Caspar Goethe mißbilligte die Absicht des Sohnes, nach Weimar zu gehen; siehe »Dichtung und Wahrheit«, Zwanzigstes Buch (DuW 1, 646; WA I 29, 184–185).

das liebe unsichtbaare Ding] Siehe Brief an Auguste zu Stolberg, 15. April 1775 (DjG 5, 22; WA IV 2, 260): 〈…〉 das liebe Ding, das sie Gott heissen 〈…〉.

Norden] Gemeint ist Weimar; siehe die Erläuterung zu 13,2.

Süden] Gemeint ist Italien; siehe die Erläuterung zu 13,2.

ich sagte zu] Gemeint ist die Zusage, nach Weimar zu kommen.

die Thorschliesser] Nicht ermittelt.

Burgemeister] Wohl metonymisch für das Amtsgebäude des Bürgermeisters.

Nachbaar Schuflicker] Nicht ermittelt.

Kornmarckt] Im Haus »Zum Liebeneck« am Kornmarkt wohnte Anna Elisabeth Schönemann.

Spenglersiunge] Nicht ermittelt; gemeint ist der Sohn oder der Lehrling eines Spenglers, Klempners.

Nachbaars magd] Nicht ermittelt.

Das erstemal] Bei der Abreise in die Schweiz im Mai 1775.

Und du bis Lebe wohl] An Charlotte Nagel gerichtet. Siehe Brief an Auguste zu Stolberg, 14.–19. September 1775 (DjG 5, 258; WA IV 2, 292): Offenbach. Sonntag d. 17ten Nachts zehen. 〈…〉 Verliebelte ein paar ⟨Stunden⟩ mit einem Mädgen davon dir die Brüder erzählen mögen, das ein seltsames Geschöpf ist. Siehe Johann Christian Ehrmann an Goethe, 12. Dezember 1812 (GG, Nr 252): »Zürnen Sie ja nicht mit mir, wenn ich Sie im jetzigen Ehestande an ein schönes Mädchen von Offenbach namens Nagel erinnere – an welchem Sie, Klinger, Haugwitz, Stolberg, Jacobi, Willemer – und ich im Vielkampf berühmt wurden.«

alten Burg] Burg Frankenstein bei Eberstadt an der Bergstraße.

dich vorbeyfahre] Goethe war auf dem Weg nach Eberstadt durch Darmstadt gereist, wo Johann Heinrich Merck wohnte.

Wüste] Sandhügel bei Darmstadt.

Riedesels Garten] Der Garten von Hermann von Riedesel zu Eisenbach bei Darmstadt.

Tannenwald] Die Tanne, heute Bessunger Wald, südöstlich von Darmstadt.

Exerzierhaus] Das Zeughaus, erbaut 1770–1772 von Johann Martin Schuhknecht (1754–1786 fürstlicher Baumeister in Darmstadt).

Bruder] Merck.

bei dem lieben Ding] Siehe die vierte Erläuterung zu 30. Oktober 1775.

Ominose Uberfüllung des Glases] Goethe deutete die zufällige Überfüllung eines Trinkglases als ein unheilverkündendes Vorzeichen.

Riesengebeine unsrer Erzväter] Gemeint sind wohl die »Riesensteine« bei Wolfsbrunnen.

gebürg] Odenwald.

weinreben bis Nussallee] Beschreibung der Bergstraße zwischen Darmstadt und Heidelberg.

das Thal den Rhein hin] Teil des Neckartals zwischen Heidelberg und der Rheinebene bei Mannheim.

Wirth] Nicht ermittelt.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GT I, 30.10.1775 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), in: https://goethe-biographica.de/id/GT01_0014.

Entspricht Druck:
Text: GT I 1, S. 13–14 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), Stuttgart 1998.
Kommentar: GT I 2, S. 383 (Wolfgang Albrecht/Andreas Döhler), Stuttgart 1998.

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