BuG: BuG I, A 210
Wetzlarer Zeit Mai/Sept. 1772

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 151)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Unter den jungen Männern, welche, der Gesandtschaft zugegeben, sich zu ihrem künftigen Dienstlauf vorüben sollten, fand sich einer, den wir kurz und gut den Bräutigam zu nennen pflegten. Er zeichnete sich aus durch ein ruhiges gleiches Betragen, Klarheit der Ansichten, Bestimmtheit im Handeln und Reden. Seine heitere Thätigkeit, sein anhaltender Fleiß empfahl ihn dergestalt den Vorgesetzten, daß man ihm eine baldige Anstellung versprach. Hiedurch berechtigt, unternahm er, sich mit einem Frauenzimmer zu verloben, das seiner Gemüthsart und seinen Wünschen völlig zusagte. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich als Haupt einer zahlreichen jüngeren Familie höchst thätig erwiesen und den Vater in seinem Witwerstand allein aufrecht erhalten, so, daß ein künftiger Gatte von ihr das Gleiche für sich und seine Nachkommenschaft hoffen und ein entschiedenes häusliches Glück erwarten konnte. Ein jeder gestand, auch ohne diese Lebenszwecke eigennützig für sich im Auge zu haben, daß sie ein wünschenswerthes Frauenzimmer sei. Sie gehörte zu denen, die, wenn sie nicht heftige Leidenschaften einflößen, doch ein allgemeines Gefallen zu erregen geschaffen sind ... Solche Personen sind nicht allzu sehr mit sich selbst beschäftigt; sie haben Zeit die Außenwelt zu betrachten, und Gelassenheit genug sich nach ihr zu richten, sich ihr gleich zu stellen; sie werden klug und verständig ohne Anstrengung, und bedürfen zu ihrer Bildung wenig Bücher. So war die Braut. Der Bräutigam, bei seiner durchaus rechtlichen und zutraulichen Sinnesart, machte jeden den er schätzte, bald mit ihr bekannt, und sah gern, weil er den größten Theil des Tages den Geschäften eifrig oblag, wenn seine Verlobte, nach vollbrachten häuslichen Bemühungen, sich sonst unterhielt und sich gesellig auf Spaziergängen und Landpartien mit Freunden und Freundinnen ergötzte. Lotte – denn so wird sie denn doch wohl heißen – war anspruchlos in doppeltem Sinne: erst ihrer Natur nach, die mehr auf ein allgemeines Wohlwollen als auf besondere Neigungen gerichtet war, und dann hatte sie sich ja für einen Mann bestimmt, der, ihrer werth, sein Schicksal an das ihrige für’s Leben zu knüpfen sich bereit erklären mochte. Die heiterste Luft wehte in ihrer Umgebung. Ja, wenn es schon ein angenehmer Anblick ist, zu sehen, daß Eltern ihren Kindern eine ununterbrochene Sorgfalt widmen, so hat es noch etwas Schöneres, wenn Geschwister Geschwistern das Gleiche leisten. Dort glauben wir mehr Naturtrieb und bürgerliches Herkommen, hier mehr Wahl und freies Gemüth zu erblicken. Der neue Ankömmling, völlig frei von allen Banden, sorglos in der Gegenwart eines Mädchens, das, schon versagt, den gefälligsten Dienst nicht als Bewerbung auslegen und sich desto eher daran erfreuen konnte, ließ sich ruhig gehen, war aber bald dergestalt eingesponnen und gefesselt, und zugleich von dem jungen Paare so zutraulich und freundlich behandelt, daß er sich selbst nicht mehr kannte. Müßig und träumerisch, weil ihm keine Gegenwart genügte, fand er das was ihm abging in einer Freundin, die, indem sie für’s ganze Jahr lebte, nur für den Augenblick zu leben schien. Sie mochte ihn gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre Nähe nicht missen, denn sie vermittelte ihm die Alltagswelt, und so waren sie, bei einer ausgedehnten Wirthschaft, auf dem Acker und den Wiesen, auf dem Krautland wie im Garten, bald unzertrennliche Gefährten. Erlaubten es dem Bräutigam seine Geschäfte, so war er an seinem Theil dabei; sie hatten sich alle drei an einander gewöhnt ohne es zu wollen, und wußten nicht, wie sie dazu kamen, sich nicht entbehren zu können. So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine echt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd erquickten sie sich am thaureichen Morgen; das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel waren ergötzliche Töne; heiße Stunden folgten, ungeheure Gewitter brachen herein, man schloß sich nur destomehr an einander, und mancher kleine Familienverdruß war leicht ausgelöscht durch fortdauernde Liebe. Und so nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und alle schienen Festtage zu sein; der ganze Kalender hätte müssen roth gedruckt werden.

J. Chr. Kestner an A. v. Hennings (Konzept) Herbst 1772 (*Berend1 S. 106)

B2 32

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Im FrühJahr kam hier ein gewisser Goethe aus Franckfurt, seiner Handthierung Dr. Juris, 23. J. alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier, dieß war seines Vaters Absicht, in Praxi umzusehen, der seinigen nach aber, den Homer, Pindar p. zu studieren und was sein Genie, seine DenckungsArt u. sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würde.

Gleich Anfangs kündigten ihn die hiesigen schönen Geister als einen ihrer Mitbrüder, und als Mitarbeiter an der neuen Franckfurter Gelehrten Zeitung, beyläufig auch als Philosophen im Publico an, und gaben sich Mühe mit ihm in Verbindung zu stehen. Da ich unter diese Classe von Leuten nicht gehöre, oder vielmehr im Publico nicht so gänge bin, so lernte ich Göethen erst spät u. ganz von ohngefähr kennen. Einer der vornehmsten unsrer schönen Geister, Secret. Gotter, beredete mich einst nach Garbenheim, einem Dorf, gewöhnl[ichem] Spatziergang, zu gehen. Daselbst fand ich ihn im Grase unter einem Baum auf dem Rücken liegen, indem er sich mit einigen Umstehenden, einem Epicuräischen Philosophen, /:v. Goué, grosses Genie:/ einem stoischen Philosophen/:v. Kielmannsegge:/ und einem Miteldinge von beyden /:Dr. Koenig:/ unterhielt u. ihm recht wohl war.

Er hat sich nachher darüber gefreuet, daß ich ihn in einer solchen Stellung kennen gelernet. Es ward von mancherley zum Theil interessanten Dingen gesprochen. Für dieses Mahl urtheilte ich aber nichts weiter von ihm, als: es ist kein unbeträchtlicher Mensch. Sie wissen, daß ich nicht eilig urtheile. Ich fand schon, daß er Genie hatte, u. eine lebhafte Einbildungskraft, aber dieß war mir doch noch nicht genug ihn schon hoch zu schätzen.

Ehe ich weiter gehe, muß ich eine Schilderung von ihm versuchen, da ich ihn nachher genau kennen gelernet habe.

Er besitzt, was man Genie nennt, u. eine ganz ausserordentlich lebhafte Einbildungskraft. Er ist in seinen Affecten heftig. Er hat eine edle Denckungsart. Er ist ein Mensch von Character. Er liebt die Kinder u. kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre u. hat in seinem Betragen, seinem Aeuserlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte: Aber bey Kindern, bey Frauenzimmern u. vielen andern ist er doch wohl angeschrieben.

Er thut, was ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt.*) 1

Für dem weiblichen Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung. Er ist sehr bilderreich u. drückt sich gemeinglich mit Gleichnissen, mit Bildern aus. Er pflegt auch wohl selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemahls eigentlich ausdrücken könne: wenn er aber älter werde, hoffe er die Gedancken selbst wie sie wären zu denken u. zu sagen.

In Principiis ist er noch nicht fest, u. strebt noch erst nach einem gewissen System.

Um etwas davon zu sagen, so hält er viel vom Rousseau, ist iedoch kein blinder Anbeter von demselben.

Er ist nicht, was man orthodox nennt. Jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um was vorstellen zu wollen. Er äusert sich auch über gewisse Haupt-Materien gegen wenige; stöhrt andere nicht gern in ihren ruhigen Vorstellungen.

Er haßt zwar den Scepticismum, strebt nach Wahrheit u. nach Determinirung über gewisse HauptMaterien, glaubt auch schon über die wichtigsten determinirt zu seyn, so viel ich aber gemerckt, ist er es noch nicht. Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner.

Zuweilen ist er über gewisse Materien ruhig; zuweilen aber nichts weniger, wie das.

Vor der Christlichen Religion hat er Hochachtung nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellten.

Er glaubt ein künftiges Leben, einen besseren Zustand;

Er strebt nach Wahrheit; hält iedoch mehr vom Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration.

Er hat schon viel gethan u. viele Känntnisse; viel Lecture aber doch noch mehr gedacht u. raisonniret. Aus den schönen Wissenschaften u. Künsten hat er sein Haupt-Werck gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht denen sogenanten Brodwissenschaften.

  1. *) Variante am Rande: Er hat sehr viel Talente, ist ein wahres Genie, u. ein Mensch von Character. Besitzt eine ausserordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens unter Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er hat sehr viele Känntniß. Er ist in allen seinen Affecten heftig; hat iedoch oft viel Gewalt über sich. Seine Denckungsart ist edel; von Vorurtheilen frey, handelt er, wie es ihm einfällt, ohne Rücksicht auf Mode, Gewohnheit oder Meynungen. Ich wollte ihn schildern, aber es würde zu weitläuftig werden, denn es läßt sich gar viel v. ihm sagen, Er ist mit einem Worte ein sehr merckwürdiger Mensch. Er steht bey mir gleich nach Ihnen. Ich würde nicht fertig werden, wenn ich ihn ganz schildern wollte.

J. Chr. Kestner an A. v. Hennings 18. 11. 1772 (Berend1 S. 110)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Ein Mensch [Goethe] deßen Urtheil von Erheblichkeit ist, gestand diesen Sommer, er hätte noch kein Frauenzimmer gefunden, das so von den gewöhnlichen weiblichen Schwachheiten frey und doch so ganz Mädchen wäre [wie Lotte]. Wenn ich vor Ende dieses Briefes die Schilderung bekomme, welche er von Lottchen gemacht hat, will ich sie noch hersetzen.

Ob [sie] nun gleich .... nicht eigentlich eine sogenannte glänzende Beauté ist, nach dem gemeinen Sinne (mir ist sie’s) so bleibt sie doch immer das bezaubernde Mädchen, das Schaaren von Anbetern haben könnte, alte und junge, ernsthafte und lustige, Kluge und Dumme etc. Sie weiß sie aber bald zu überzeugen, daß sie entweder in der Flucht oder in der Freundschaft ihr einziges Heil suchen müssen. Eines von diesen, als des merkwürdigsten, will ich doch erwähnen, weil er auf uns einen Einfluß behalten. Ein junger Mensch an Jahren (23), aber in Kenntnissen und Entwickelung seiner Seelenkräfte und seines Charakters schon ein Mann; ein ausserordentliches Genie und ein Mensch von Charakter, war hier [Wetzlar], wie seine Familie glaubte, der Reichs-Praxis wegen, in der That aber um der Natur und der Wahrheit nachzuschleichen, und den Homer und Pindar zu studiren. Er hat nicht nöthig des Unterhaltes wegen zu studiren. Ganz von ohngefähr, nach langer Zeit seines Hierseyns, lernte er Lottchen kennen, und in ihr sein Ideal von einem vortrefflichen Mädchen; er sah sie in ihrer fröhlichen Gestalt, ward aber bald gewahr, daß dieses nicht ihre vorzüglichste Seite war; er lernte sie auch in ihrer häuslichen Situation kennen, und ward, mit einem Wort, ihr Verehrer. Es konnte ihm nicht lange unbekannt bleiben, daß sie ihm nichts als Freundschaft geben konnte, und ihr Betragen gegen ihn gab wiederum ein Muster ab. Dieser gleiche Geschmack, und da wir uns näher kennen lernten, knüpfte zwischen ihm und mir das festeste Band der Freundschaft, so daß er bey mir gleich auf meinen lieben Hennings folgt. Indessen, ob er gleich in Ansehung Lottchens alle Hoffnung aufgeben mußte, und auch aufgab, so konnte er, mit aller seiner Philosophie und seinem natürlichen Stolze, so viel nicht über sich erhalten, daß er seine Neigung ganz bezwungen hätte. Und er hat solche Eigenschaften, die ihn einem Frauenzimmer, zumal einem empfindenden und das von Geschmack ist, gefährlich machen können: Allein Lottchen wußte ihn so kurz zu halten und auf eine solche Art zu behandeln, daß keine Hoffnung bey ihm aufkeimen konnte, und er sie, in ihrer Art zu verfahren, noch selbst bewundern mußte. Seine Ruhe litt sehr dabey; es gab mancherley merkwürdige Scenen, wobey Lottchen bey mir gewann, und er mir als Freund auch werther werden mußte, ich aber doch manchmal bey mir erstaunen mußte, wie die Liebe so gar wunderliche Geschöpfe selbst aus den stärcksten und sonst für sich selbstständigen Menschen machen kann. Meistens dauerte er mich und es entstanden bey mir innerliche Kämpfe, da ich auf der einen Seite dachte, ich möchte nicht im Stande seyn, Lottchen so glücklich zu machen, als er, auf der andern Seite aber den Gedanken nicht ausstehen konnte, sie zu verlieren. Letzteres gewann die Oberhand, und an Lottchen habe ich nicht einmal eine Ahndung von dergleichen Betrachtung bemerken können. Kurz, er fieng nach einigen Monaten an, einzusehen, daß er zu seiner Ruhe Gewalt gebrauchen mußte. In einem Augenblicke, da er sich darüber völlig determiniert hatte, reisete er ohne Abschied davon, nachdem er schon öfters vergebliche Versuche zur Flucht gemacht hatte. Er ist zu Franckfurt und wir reden fleissig durch Briefe mit einander. Bald schrieb er, nunmehr seiner wieder mächtig zu seyn; gleich darauf fand ich wieder Veränderungen bey ihm.

J. Chr. Kestner an A. v. Hennings 7. 11. 1774 (Berend1 S. 113)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Im ersten Theile des Werthers ist Werther Goethe selbst. In Lotte und Albert, hat er von uns, meiner Frau und mir, Züge entlehnt. Viele von den Scenen sind ganz wahr, aber doch zum Theil verändert; andere sind, in unserer Geschichte wenigstens, fremd. Um des zweyten Theils Willen, und um den Tod des Werthers vorzubereiten, hat er im ersten Theile verschiedenes hinzugedichtet, das uns gar nicht zukömmt. Lotte hat z. B. weder mit Goethe, noch mit sonst einem anderen, in dem ziemlich genauen Verhältniß gestanden, wie da beschrieben ist ... Sie betrug sich so gegen ihn, daß ich sie weit lieber hätte haben müssen, als sonst, wenn dieses möglich gewesen wäre. Unsere Verbindung ist auch nie declarirt gewesen, zwar nicht heimlich gehalten; doch war sie viel zu schamhaft als es irgend jemanden zu gestehen.

A. M. Sprickmann an B. Sprickmann-Kerkerinck 28. 6. 1800 (UB Münster, Sprickmann-Nachl.)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

In Garbenheim habe ich einmal mit lotte ein Kind aus der Taufe gehoben; die Eltern wohnten am Kirchhofe; es waren leute, zu welchen Göthe oft einkehrte; einst lag er mit lotte und albert am ufer der lahn: lotte klagte über Durst: Göthe entfernte sich unbemerkt, und kam dann auf einmal mit einem großen Milchtopf auf dem Kopfe wieder zu ihnen. Den Topf hatte er von den leute gehohlt, von denen ich rede.

J. Chr. Kestner, Tagebuch 12. 9. 1772 (Berend1 S. 103)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

den 12. Sept. ... Nach dem Essen begleitete ich Lottchen bis gegen Garbenheim, da sie, von des Schulmeisters Tochter [Luise Däumer] begleitet, nach Atzbach ging. Auf dem Berge sah ich ihr noch mit Perspectiv nach, ich sah sie mit einer Bauersfrau [Eva Justine Henriette Bamberger, geb. Däumer] unter Wegs, die bey ihr still stand, reden. Es war des Dr. Goethe Freundin in Garbenheim, eine Frau, welche ziemlich gut aussiehet, eine freundliche, unschuldige Miene hat, und gut iedoch ganz ohne Kunst reden kann; sie hat 3 Kinder, welchen Dr. Goethe oft etwas mitbrachte, daher sie ihn lieb hatten, die Frau sah ihn auch gern. Diese redte Lottchen an: Ob sie so ganz allein käme? – Ich habe ia hier iemand bey mir! – Die Frau: Ja, ich meyne ob sie keinen Herren bey sich hat? – Was dann für einen? der oft zu ihr gekommen ist? – Die Frau: Den mit der Feder? – Nein der letzthin bey euch war, der ist fort und kömmt nicht wieder. – Die Frau: Ey, der ist fort! – Ja, habt ihr etwas an ihn zu bestellen, so will ich es durch iemand schreiben lassen. – Die Frau: O dem hätte ich einen ganzen Wagen voll zu schreiben!

Albertine v. Grün an Karoline v. Wieger o. Dat. 1780 (Schwartz S. 107)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Ich habe ihn einmal gesehen, und er mich vermuthlich nur ein halbmal; denn er war damals in Dämmerung versunken, obwohl seine Sonne um ihn schien. Ich erinnere mich aber nichts mehr von ihm, als daß er einen pfirsichblütenen Rock an hatte. Das war mir dazumal das aller Erste, was ich behielt.

An J. Chr. Kestner, Anf. Nov. 1772 (WA IV 2, 33)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Der unglückliche Jerusalem ... wenn ich zurückkam vom Spaziergang und er mir begegnete hinaus im Mondschein, sagt ich er ist verliebt. Lotte muss sich noch erinnern daß ich drüber lächelte ... seit sieben jahren kenn ich die Gestalt, ich habe wenig mit ihm geredt, bey meiner Abreise nahm ich ihm ein Buch mit das will ich behalten und sein Gedencken so lang ich lebe.

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 155)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Auch er [Jerusalem] war bei einer Gesandtschaft angestellt: seine Gestalt gefällig, mittlerer Größe, wohlgebaut ... Der Verfasser hat ihn nie besucht, auch nicht bei sich gesehen; manchmal traf er ihn bei Freunden. Die Äußerungen des jungen Mannes waren mäßig, aber wohlwollend. Er nahm an den verschiedensten Productionen Theil; besonders liebte er solche Zeichnungen und Skizzen, in welchen man einsamen Gegenden ihren stillen Charakter abgewonnen hatte. Er theilte bei solchen Gelegenheiten Gesner’sche Radirungen mit, und munterte die Liebhaber auf, darnach zu studiren. An allem jenem Ritterwesen und Mummenspiel nahm er wenig oder keinen Antheil, lebte sich und seinen Gesinnungen ...

Jene Gesner’schen Radirungen vermehrten die Lust und den Antheil an ländlichen Gegenständen, und ein kleines Gedicht, welches wir in unsern engern Kreis mit Leidenschaft aufnahmen, ließ uns von nun an nichts anders mehr beachten. Das deserted village von Goldsmith mußte jedermann auf jener Bildungsstufe, in jenem Gesinnungskreise, höchlich zusagen ... Ich theilte den Enthusiasmus für dieses allerliebste Gedicht mit Gottern, dem die von uns beiden unternommene Übersetzung besser als mir geglückt ist: denn ich hatte allzu ängstlich die zarte Bedeutsamkeit des Originals in unserer Sprache nachzubilden getrachtet, und war daher wohl mit einzelnen Stellen, nicht aber mit dem Ganzen übereingekommen.

J. A. Günther an Unbekannt 30. 12. 1778 (GJb 18, 52)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Hätt ich Dich hier, wie solltest Du laut jauchzen über die herrliche Landschaft, die hier vor meinen Fenstern ausgebreitet liegt! ... Auch neidet mich jeder um mein Zimmer, und zur Zeit der Visitation hats ein Hr: von Meckeln bewohnt, der der dritte war in dem herrlichen Kleeblatt mit Göthe und Jerusalem, die denn immer hier ihre gemeinsame Niederlage hatten.

Ich will Dir doch nun die Geschichte erzählen von Göthe und dem sel. Jerusalem, die den ganzen Stoff zum Werther angiebt, so wie ich sie hier aus dem Munde der Augenzeugen und besonders der Puffschen Familie gesammelt habe.

Göthe und Jerusalem lebten hier [Wetzlar] in herzlicher Eintracht und ganz gleichen Gesinnungen; jeder Mensch war ihnen desto willkomner, je natürlicher er war, und so waren sie hier denn ganz in ihrem Element, nahmen innigen Antheil an jede gesellige Freude, und verschlossen übrigens in ihrem Herzen alle Empfindung, die für diese Atmosphäre zu kräftig war, denn sie hätten nur den guten Seelen hier den unbefangnen Genuss ihres Lebens leid gemacht. Göthe war ganz offen für jedermann, und für jede Art von Freude empfänglich; Jerusalem mehr verschlossen, und hatte den Grundsatz des Polonius, seine Freundschaft nicht jeder neuausgebrüteten noch unbefiederten Bekanntschaft Preis zu geben; aber wenn er sich einmal anschloss, so wars auch so innig, dass nicht Leben noch Tod ihn losreissen konnte von seiner Liebe. Aus diesem Grundzug in beider Charakter erklärt sich alles in der Geschichte ihres folgenden Lebens; und diese dem Anschein nach so differenten Grundzüge hat Göthe so treflich in einander zu verschmelzen gewusst, dass das herrliche Bild daraus geworden ist, was nun im Werther da steht.

Göthe hatte seine gewöhnliche Niederlage in Garbenheim, und machte auf einem Ball vor der Stadt Bekanntschaft mit Lotte Puff, die damals an ihren itzigen Mann, den Sekretär Küstner schon versprochen war, wie das alles im Buch geschrieben stehet. Der Umgang dauerte theils in der Stadt, theils auf dem Lande vort, bis Küstner kam; und mittlerweil sammelten sich all die herrlichen Situationen, die Du aus dem ersten Theil kennst. Die Augen von ganz Wetzlar waren auf einen Mann gerichtet, den sie nicht begreifen konnten, der bald am Markttag alle Kirschen am ganzen Markt aufkaufte, alle Kinder in der Stadt zusammentrommelte, und dann mit der Karavane nach Puffs Hause zog, wo er die Kinder all im Kreise um die Körbe herstellte, und Lotte ihnen Butterbrodt dazu schnitt, bald wieder auf den Dörfern herumzog und sich selbst seine Erbsen absämte und kochte. Küstner war schon im Begriff, seine Lotte zu lassen, weil er das nun nicht in ihr zu finden hoffte, was sein ganzes Verlangen war, eine treue Gehülfinn des Lebens: als Göthe unter vieler Beklemmung und Thränen den herrlichen Abend feierte, mit dem sich der erste Theil schliesst, und dann als ehrlicher Mann wegging, da er als ehrlicher Mann nicht mehr bleiben durfte. Auch ist er seitdem nie wieder nach Wetzlar kommen, hat Lotte auch bis dahin noch nie wieder gesehn.

J. A. Günther an W. Nissen 22. 1. 1779 (GJb 18, 56)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Göthe lebte hier [in Wetzlar] als Praktikant, liebte Lotten Puff, des hiesigen Amtmanns Tochter, die damals schon mit ihrem itzigen Mann, dem Sekretär Küstner in Hanover, versprochen war, und durchlebte mit ihr eben die Auftritte, die den 1sten Theil vom Werther ausmachen. Als der Bräutgam kam, um seine Braut zu holen, ging Göthe, wie einem ehrlichen Kerl gebührt, heimlich vort, wie das alles im letzten Brief des ersten Theils beschrieben ist.

H. G. v. Bretschneider (Linger S. 59)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Ganz kam nach Wetzlar unter einem Haufen junger Leute, die sich dort aufhielten (unter Anderen auch Goethe) und setzte diesen Spaß [sich altdeutsche Ritternamen beizulegen] auch unter Diesen fort, so daß in Wetzlar damals Ganz, Goethe, Goue, Jerusalem und Mehrere, die ich vergessen habe, immer nur von Rittern und Ritterwesen scherzten.

Dichtung und Wahrheit XII (WA I 28, 147)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Früher mit Mercken, nunmehr manchmal mit Gottern, machte ich den Versuch, Maximen auszufinden, wonach man bei’m Hervorbringen zu Werke gehn könnte. Aber weder mir noch ihnen wollte es gelingen. Merck war Zweifler und Eklektiker, Gotter hielt sich an solche Beispiele, die ihm am meisten zusagten.

F. W. Gotter an H. Chr. Boie 18. 9. 1772 (Aukt.-Kat. Meyer & Ernst 17, 42)

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Göthe ist seit ein paar Tagen verschwunden – im eigentlichsten Verstande verschwunden. Denn kein Mensch weiss, wo er hin ist. Fast vermuthe ich, dass er nach Weiburg auf die Bilderjagd ausgeritten ist, wo wir diesen Sommer einmahl zusammen waren. Mich freuts unendlich u. ihn nicht weniger, dass Sie seine Recensionen errathen haben. Sowohl Gesner, als der polnische Jude sind von ihm. Was der letztere zu der Ausschweifung seines Recensenten sagen wird, weiss ich nicht. Mir ist sie um so leichter aufzulösen – da ich auch das Mädchen kenne, dessen Portrait er – aber wie sichs die plastische Natur dachte – u. mit Augen der Liebe gemahlt hat. Nun dürfen Sie es auch wissen, dass das kleine schwärmerische Liedchen von ihm ist. Nur lassen Sie’s nicht merken. Denn er hat die Eitelkeit vor keinem Dichter passieren zu wollen.

Literaturverweis/Erläuterung

Wetzlar Mai/Sept. 1772

Für die Wetzlarer Zeit vgl. auch A. S. v. Goué, Masuren oder der junge Werther und dazu J. Kühn, Der vorweim. Goethe i. Spiegel der Dichtung seiner Zeit. Diss. Heidelberg 1912, S. 42 ff.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0210 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0210.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 212 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang