BuG: BuG I, A 165
Straßburg Sommer 1771

J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 290)

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Straßburg Sommer 1771

Binnen sieben Tagen kam er [Stilling] ... wieder gesund und wohlbehalten in Straßburg an. Sein erster Gang war zu Göthe. Der Edle sprang hoch in die Höhe, als er ihn sahe, fiel ihm um den Hals und küßte ihn: Bist du wieder da, guter Stilling! rief er, und was macht dein Mädchen? Stilling antwortete: Sie ist mein Mädchen nicht mehr, sie ist nun meine Frau. „Das hast du gut gemacht,“ erwiederte Jener; „du bist ein excellenter Junge.“ Diesen halben Tag verbrachten sie vollends in herzlichen Gesprächen und Erzählungen ...

Göthe, Lenz, Leose [Lersé] und Stilling machten jetzt so einen Zirkel aus, indem es Jedem wohl ward, der nur empfinden kann, was schön und gut ist. Stillings Enthusiasmus für die Religion hinderte ihn nicht, auch solche Männer herzlich zu lieben, die freier dachten als er, wenn sie nur keine Spötter waren.

An Herder, Sommer (?) 1771 (WA IV 1, 256)

Straßburg Sommer 1771

Die Post geht, und hier ist Schäckespear. Es war mir leichter ihn zu haben als ich glaubte, in einem Anfall von hypochondrischer Grosmuth hätte mir mein Mann die Haare vom Kopf gegeben, besonders da es vor Sie war.

Hierbey kommt ein Brief von Jungen [Jung-Stilling]; der arme Mensch! Alle Gleichnisse aus Weissens Julie von Meelthau, Mayfrost, Nord, und Würmern, können die Landplage nicht ausdrücken, die Kästners Schlangenstab über den treuherzigen Jung gedeckt hat.

Ich sehe aus seinem Brief an Sie, mehr als aus unsrem Gespräch über die Materie wie aufgebracht er ist; eigentlich versichre ich Sie Kästner ist in der Sache so zu Wercke gegangen, dass ich ihn nicht schelten kann. Jung fühlt das freylich lebhaffter als ich; hält das für Satyren was Indigitationen sind, und das für Handwercksneid was Professorkritick ist ...

Nachdem Sie fort sind binn ich sein Heiliger.

*Böttiger, Lit. Zustände 1, 61

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Straßburg Sommer 1771

(Lerse in Club 30. 11. 1798) ... Sie waren in diese[r] Zeit unzertrennlich. Oft giengen sie auf den Münster, und saßen Stundenlang auf seinen Zinnen. Dort entstand Göthes Erwin, die erste Schrift die G. drucken ließ. Oft fuhren sie den Rhein hinauf, lasen bei der Laterne in Ruprechtsau Ossian und Homer, schliefen in einem Bette zusammen, ohne doch zu schlafen. Da gerieth Göthe oft in hohe Verzückungen, sprach Worte der Prophezeiung und macht Lersen Besorgnisse, er werde überschnappen. Er hatte ein unbegränztes Zutrauen zu Lerse, der ihn lenken konnte, wohin er wollte. Sechs Wochen, nachdem er aus Strasburg war, schickte er ihm seinen Götz von Berlichingen ganz vollendet, da er vorher gewiß noch nicht daran gearbeitet hatte.

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 74)

Straßburg Sommer 1771

So wirkte in unserer Straßburger Societät Shakespeare, übersetzt und im Original, stückweise und im Ganzen, stellen- und auszugsweise, dergestalt, daß wie man bibelfeste Männer hat, wir uns nach und nach in Shakespeare befestigten, die Tugenden und Mängel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in unseren Gesprächen nachbildeten, an seinen Quibbles die größte Freude hatten, und durch Übersetzung derselben, ja durch originalen Muthwillen mit ihm wetteiferten. Hiezu trug nicht wenig bei, daß ich ihn vor allen mit großem Enthusiasmus ergriffen hatte. Ein freudiges Bekennen, daß etwas Höheres über mir schwebe, war ansteckend für meine Freunde, die sich alle dieser Sinnesart hingaben. Wir läugneten die Möglichkeit nicht, solche Verdienste näher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu beurtheilen; aber dieß behielten wir uns für spätere Epochen vor: gegenwärtig wollten wir nur freudig theilnehmen, lebendig nachbilden, und, bei so großem Genuß, an dem Manne, der ihn uns gab, nicht forschen und mäkeln, vielmehr that es uns wohl, ihn unbedingt zu verehren.

Will jemand unmittelbar erfahren, was damals in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und verhandelt worden, der lese den Aufsatz Herders über Shakespeare, in dem Hefte von Deutscher Art und Kunst; ferner Lenzens Anmerkungen über’s Theater, denen eine Übersetzung von Love’s labour’s lost hinzugefügt war ... Ich lernte ihn [Lenz] erst gegen das Ende meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit uns zu treffen, und theilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige Jünglinge, ähnliche Gesinnungen hegten ... Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut vor ...

Die Absurditäten der Clowns machten besonders unsere ganze Glückseligkeit, und wir priesen Lenzen als einen begünstigten Menschen, da ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessin geschossenen Wildes folgendermaßen gelungen war:

  Die schöne Prinzessin schoß und traf   Eines jungen Hirschleins Leben;   Es fiel dahin in schweren Schlaf,   Und wird ein Brätlein geben.   Der Jagdhund boll! Ein L zu Hirsch   So wird es denn ein Hirschel;   Doch setzt ein römisch L zu Hirsch,   So macht es funfzig Hirschel.   Ich mache hundert Hirsche draus,   Schreib’ Hirschell mit zwei LLen.

Die Neigung zum Absurden, die sich frei und unbewunden bei der Jugend zu Tage zeigt, nachher aber immer mehr in die Tiefe zurücktritt, ohne sich deßhalb gänzlich zu verlieren, war bei uns in voller Blüthe, und wir suchten auch durch Originalspäße unsern großen Meister zu feiern. Wir waren sehr glorios, wenn wir der Gesellschaft etwas der Art vorlegen konnten, welches einigermaßen gebilligt wurde, wie z. B. folgendes auf einen Rittmeister, der auf einem wilden Pferde zu Schaden gekommen war:

  Ein Ritter wohnt in diesem Haus;   Ein Meister auch daneben;   Macht man davon einen Blumenstrauß,   So wird’s einen Rittmeister geben.   Ist er nun Meister von dem Ritt,   Führt er mit Recht den Namen;   Doch nimmt der Ritt den Meister mit,   Weh ihm und seinem Samen!

Über solche Dinge ward sehr ernsthaft gestritten, ob sie des Clowns würdig oder nicht, und ob sie aus der wahrhaften reinen Narrenquelle geflossen, oder ob etwa Sinn und Verstand sich auf eine ungehörige und unzulässige Weise mit eingemischt hätten. Überhaupt aber konnten sich diese seltsamen Gesinnungen um so heftiger verbreiten und um so mehrere waren im Falle daran Theil zu nehmen, als Lessing, der das große Vertrauen besaß, in seiner Dramaturgie eigentlich das erste Signal dazu gegeben hatte.

In so gestimmter und aufgeregter Gesellschaft gelang mir manche angenehme Fahrt nach dem oberen Elsaß, woher ich aber eben deßhalb keine sonderliche Belehrung zurückbrachte. Die vielen kleinen Verse, die uns bei jeder Gelegenheit entquollen, und die wohl eine muntere Reisebeschreibung ausstatten konnten, sind verloren gegangen. In dem Kreuzgange der Abtei Molsheim bewunderten wir die farbigen Scheibengemählde; in der fruchtbaren Gegend zwischen Colmar und Schlettstadt ertönten possierliche Hymnen an Ceres, indem der Verbrauch so vieler Früchte umständlich aus einander gesetzt und angepriesen, auch die wichtige Streitfrage über den freien oder beschränkten Handel derselben sehr lustig genommen wurde. In Ensisheim sahen wir den ungeheuren Aerolithen in der Kirche aufgehangen, und spotteten, der Zweifelsucht jener Zeit gemäß, über die Leichtgläubigkeit der Menschen.

Dichtung und Wahrheit XI (WA I 28, 40)

Straßburg Sommer 1771

Die Freunde, denen ich meine Verlegenheit [wegen der Disputation] mittheilte, fanden mich lächerlich, weil man über Theses eben so gut, ja noch besser als über einen Tractat disputiren könne; in Straßburg sei das gar nicht ungewöhnlich. Ich ließ mich zu einem solchen Ausweg sehr geneigt finden, allein mein Vater, dem ich deßhalb schrieb, verlangte ein ordentliches Werk, das ich, wie er meinte, sehr wohl ausfertigen könnte ... Sobald ich damit zur Rande war, ging ich sie mit einem guten Lateiner durch, der, ob er gleich meinen Stil im Ganzen nicht verbessern konnte, doch alle auffallenden Mängel mit leichter Hand vertilgte, so daß etwas zu Stande kam, das sich aufzeigen ließ.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0165 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0165.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 178 (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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