Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 40
Von Friedrich Heinrich Jacobi

21. Oktober 1774, Düsseldorf

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   Da bin ich zurück! Ich war hinausge-
gangen anzubeten; habe angebetet, ge-
priesen mit süßen wonnevollen Thränen
den der da schuf dich, deine Welt, und
für eben diese Welt den glühenden kräf-
tigen Sinn in mir.


   Gleich bey'm Erwachen heute früh
fuhr mir über's Angesicht der Schauer,
von dem du weißt, wie er hinabzittert,
eindringt, zum auflösenden Leben wird
im Busen, und den ganzen Erdensohn
tödtet. – Tod, schöner, himmlischer Jüng-
ling!


   Der endliche Geist wird immer bedür- | 2 |
fen, immer streben, erringen, sammeln und
verzehren: aber wenn er nun einen Augen-
blick den diesseitigen Grenzen entrissen
wird; von den jenseitigen noch keinen Drang
fühlen kann, und im seeligen Genuß allein
sein Daseyn hat: o der unnennbaren Wonne!
Wie er da so herrlich schwebt der Liebende,
ein Theil des Allgenugsamen, alles selbstän-
dig, alles ewig mit ihm, und er ewig in
allem.


   Ich habe Werthers Leiden, und habe sie
dreymal gelesen.


   Dein Herz, dein Herz ist mir alles.
Dein Herz ists was dich erleuchtet, kräf-
tiget, gründet. Ich weiß, daß es so ist;
denn auch ich höre die Stimme, die Stimme
des Eingebohrnen Sohns Gottes, des Mittlers | 3 |
zwischen dem Vater und uns.


   Meine Seele ist zu voll, Lieber;
alles unaussprechlich: drum für heut


Adieu!

    Dein Fr.


S:  GSA 51/II,2 St. 6 (Abschrift von J. H. Schenk)  D:  JacobiI 1, in Nr. 355  B : -  A : - 

Huldigungsworte an G.: J. habe gepriesen mit süßen wonnevollen Thränen den der da schuf dich, deine Welt, und für eben diese Welt den glühenden kräftigen Sinn in mir. - Den "Werther" habe er bereits dreimal gelesen.

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  Da bin ich zurück! Ich war hinausgegangen anzubeten; habe angebetet, gepriesen mit süßen wonnevollen Thränen den der da schuf dich, deine Welt, und für eben diese Welt den glühenden kräftigen Sinn in mir.

  Gleich bey'm Erwachen heute früh fuhr mir über's Angesicht der Schauer, von dem du weißt, wie er hinabzittert, eindringt, zum auflösenden Leben wird im Busen, und den ganzen Erdensohn tödtet. – Tod, schöner, himmlischer Jüngling!

  Der endliche Geist wird immer bedür| 2 |fen, immer streben, erringen, sammeln und verzehren: aber wenn er nun einen Augenblick den diesseitigen Grenzen entrissen wird; von den jenseitigen noch keinen Drang fühlen kann, und im seeligen Genuß allein sein Daseyn hat: o der unnennbaren Wonne! Wie er da so herrlich schwebt der Liebende, ein Theil des Allgenugsamen, alles selbständig, alles ewig mit ihm, und er ewig in allem.

  Ich habe Werthers Leiden, und habe sie dreymal gelesen.

  Dein Herz, dein Herz ist mir alles. Dein Herz ists was dich erleuchtet, kräftiget, gründet. Ich weiß, daß es so ist; denn auch ich höre die Stimme, die Stimme des Eingebohrnen Sohns Gottes, des Mittlers| 3 | zwischen dem Vater und uns.

  Meine Seele ist zu voll, Lieber; alles unaussprechlich: drum für heut

Adieu!   Dein Fr.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 40, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0040_00042.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 40.

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