Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 39
Von Friedrich Heinrich Jacobi

21. Oktober 1774, Düsseldorf

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Vorgestern Abend ließ ich Rosten sagen, er
möchte herüber kommen; Werthers Leiden
seyen endlich da. Bisher hatt' ich vor ihm
die Ankunft des lieben Buchs heimlich ge-
halten, weil ichs ganz in Ruhe genießen
wollte mit den Meinigen, und weil die
bloße Vorstellung der grellgierigen Augen,
mit welchen Rost mein Büchlein ermessen,
der ängstlichen Hastigkeit womit er, sobald
ich es nur einen Augenblick aus der Hand ließ,
darnach greifen, ungeduldig darinn hin und
her rasseln und alles überpoltern würde, mir
das Herz umkehrte. Als er jetzt in mein
Zimmer trat, sagt' ich ihm gleich: Sie dürfen
mir das Buch nicht anrühren! Ich will Ihnen | 2 |
und George (dieser war zugegen) daraus vorlesen.
Er fragte, kukte nach ein und anderm, setzte sich
dann nieder und ich hub an.


   Gleich bey den ersten Seiten ward ihm wun-
derlich. Sinn, Geist, Phantasie, Schreibart, alles
war anders, als er geträumt hatte. Er äußer-
te Bewunderung, Freude; sehnte sich daß wir
in die eigentliche Geschichte kämen, welches dann
flugs geschah.


   Der arme Rost ward übermannt, gerieth außer
sich, sein Angesicht glühte, seine Augen thaueten,
seine Brust hob sich empor; Bewunderung, Ent-
zücken erfüllte seine Seele. "Ueber alles, was
Göthe bisher gemacht hat, sagt' er, ist dies gött-
liche Werk, ganz voll Kraft, ganz voll Leben,
aber damit auch alle seine Kraft, all sein
Leben: da steht er nun in seiner höchsten Größe,
an der äußersten Grenze seiner Jüngling-
schaft." – Zuweilen hielt ich inne, sprach einige
Worte, las dann weiter, und wund meinen Mann
immer höher und höher, bis es endlich dahin kam, | 3 |
daß er in der lautersten Wahrheit seines Her-
zens zeugte; du seyst der größte Mann,
den die Welt hervorgebracht; kein altes, kein
neues Volk habe ein solches Wunder aufzu-
weisen, als Werthers Leiden.


   Es ward 9 Uhr bis wir mit dem Buche
fertig wurden. Der arme Rost schwankte
umher, wie ein Rohr, in einer so wahrhaften Ent-
äußerung seiner selbst, daß es einen jammer
te. Er beschloß Werthers Leiden in der Iris
anzuzeigen; wir sollten sehen! Man rief
zu Tische. Da konnte nun wieder natürlicher Wei-
se von nichts anderm gesprochen werden, als von
dir und deinem Roman. Ich fuhr fort, an Rost
zu spannen und George stand mir ehrlich bey.
Darüber kamen wir von neuem auf die Frage:
ob's möglich sey, daß kein Genie noch etwas
eben so vortrefliches, als Werthers Leiden her-
vorbringe. Rost behauptete schlechterdings nein, | 4 |
und ich half ihm Anfangs; hernach wendete ich mich
und machte das Gegentheil so wahrscheinlich, daß
Rost sich auf einige Zwar ergeben mußte. Aber
zum Henker, fiel ich unversehens ein, an die
Schurken von Recensenten haben wir noch nicht
gedacht! wie werden diese sich bey dieser Er-
scheinung gebehrden? Rasend möcht' ich werden
bei der bloßen Vorstellung so eines Kerls, der
mir meinen Werther ausgrübe, um ihn auf das
Theatrum anatomicum zu schleppen, ihm das
Haupt öfnete, und das Herz, und alle Muskeln
und Nerven besichtigte, die Gebeine ablösete,
siedete, mit Drat wieder an einander heftete,
und ein schnee weißes, künstliches, abscheuliches
Skelet davon darstellte; das Meßer hier
könnt' ich dem Hund in die Brust jagen! –
"Das läßt sich auch gewiß keiner ankommen,
erwiederte Rost; es giebt doch noch menschlich
Gefühl und Scham in der Welt! – " Menschlich
Gefühl, Scham? Hat sich was! Erinnern Sie | 5 |
Sich nur der Berliner Litteratur Briefe über Rou-
ßeaus Jülie, und das war doch auch ein Buch,
ein Buch, wahrhaftig wovon ich nicht weiß, wenn
ich mir das Hirn ein wenig zu recht schüttle,
ob ich es für Göthens Roman hingäbe. – Rost
stutzte. – Ich fuhr fort, prieß die neue He-
loise, gieng über zum Homer, zum Ossian,
zum Schakespear – was doch das all für
Männer sind – den Ariost nicht zu vergessen:
aber das ist eben die Zaubermacht des Genies,
daß es uns unwiderstehlich in seinen Wirbel
schleudert, wo dann alle Sonnen draußen, wie
Lämpchen aussehen. – Freylich, freylich,
lächelte Rost, und stieg allgemach eine Stuffe
nach der andern zu sich selbst herab, erinner-
te sich seiner übersetzten Armida aus dem
Tasso, nahm sich vor den Rest des Gedichts auch
noch ins Deutsche zu bringen, seine schöne Bio-
graphie des Dichters noch vortreflicher auszuar- | 6 |
beiten, und ehestens mit dem Ganzen das deut-
sche Publikum in Erstaunen zu setzen.


   Beym Weggehn drückte er mir in zärtlicher
Ergebenheit die Hand, und hatte gewiß mich
von Herzen lieb. – Den folgenden Morgen
um 1/2 9 Uhr schickte er mir schon eine Ankün-
digung des Werthers für die Iris, wovon bey-
kommend die Abschrift. Was sagst du dazu?
Gedruckt soll das alberne Ding nicht werden;
aber du mußtest es doch sehen!


   Lieber, der arme Rost hat kein Herz; sei-
ne Seele ist in seinem Blute; sein Feuer ist
bloße Glut der Sinne. Darum hat seine Lai-
dion mir nie recht behagen wollen; ergötzt hat
sie mich ausnehmend; aber nicht gerührt, nicht
erweckt, mir nicht wohl gethan.


   Ich schrieb dir heute mehr; aber ich muß in
den Rath, und dann bin ich auch durch meinen
Schwager Clermont aus Vaels verhalten, der


S:  GSA 51/II,2 St. 5 (Teilabschrift von J. H. Schenk)  D:  JacobiI 1, Nr. 355  B : an M. S. von La Roche, 1774 September 19 (WA IV 2, Nr. 251)  A : - 

Empfindungen über G.s Roman "Die Leiden des jungen Werthers", den J. zunächst allein gelesen, dann aber J. J. W. Heinse (genannt Rost) vorgelesen habe, der davon ebenfalls stark beeindruckt worden sei: Ueber alles, was Göthe bisher gemacht hat, sagt' er, ist dies göttliche Werk, ganz voll Kraft, ganz voll Leben, aber damit auch alle seine Kraft, all sein Leben [...]. - Bericht von einem Gespräch über die Frage, wie sich die Rezensenten G.s Roman gegenüber verhalten würden. - Heinse habe am folgenden Morgen eine Ankündigung des "Werther" für J. G. Jacobis Zeitschrift "Iris" übergeben. Man werde zwar das alberne Ding nicht drucken, J. lege aber eine Abschrift bei. Bemerkungen über Heinses Mentalität: er habe kein Herz, sein Feuer sei bloße Glut der Sinne. Darum habe Heinses "Laidion oder die eleusinischen Geheimnisse" (1774) J. zwar ergötzt, aber nicht gerührt.

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 Vorgestern Abend ließ ich Rosten sagen, er möchte herüber kommen; Werthers Leiden seyen endlich da. Bisher hatt' ich vor ihm die Ankunft des lieben Buchs heimlich gehalten, weil ichs ganz in Ruhe genießen wollte mit den Meinigen, und weil die bloße Vorstellung der grellgierigen Augen, mit welchen Rost mein Büchlein ermessen, der ängstlichen Hastigkeit womit er, sobald ich es nur einen Augenblick aus der Hand ließ, darnach greifen, ungeduldig darinn hin und her rasseln und alles überpoltern würde, mir das Herz umkehrte. Als er jetzt in mein Zimmer trat, sagt' ich ihm gleich: Sie dürfen mir das Buch nicht anrühren! Ich will Ihnen| 2 | und George (dieser war zugegen) daraus vorlesen. Er fragte, kukte nach ein und anderm, setzte sich dann nieder und ich hub an.

  Gleich bey den ersten Seiten ward ihm wunderlich. Sinn, Geist, Phantasie, Schreibart, alles war anders, als er geträumt hatte. Er äußerte Bewunderung, Freude; sehnte sich daß wir in die eigentliche Geschichte kämen, welches dann flugs geschah.

  Der arme Rost ward übermannt, gerieth außer sich, sein Angesicht glühte, seine Augen thaueten, seine Brust hob sich empor; Bewunderung, Entzücken erfüllte seine Seele. "Ueber alles, was Göthe bisher gemacht hat, sagt' er, ist dies göttliche Werk, ganz voll Kraft, ganz voll Leben, aber damit auch alle seine Kraft, all sein Leben: da steht er nun in seiner höchsten Größe, an der äußersten Grenze seiner Jünglingschaft." – Zuweilen hielt ich inne, sprach einige Worte, las dann weiter, und wund meinen Mann immer höher und höher, bis es endlich dahin kam,| 3 | daß er in der lautersten Wahrheit seines Herzens zeugte; du seyst der größte Mann, den die Welt hervorgebracht; kein altes, kein neues Volk habe ein solches Wunder aufzuweisen, als Werthers Leiden.

  Es ward 9 Uhr bis wir mit dem Buche fertig wurden. Der arme Rost schwankte umher, wie ein Rohr, in einer so wahrhaften Entäußerung seiner selbst, daß es einen jammer te. Er beschloß Werthers Leiden in der Iris anzuzeigen; wir sollten sehen! Man rief zu Tische. Da konnte nun wieder natürlicher Weise von nichts anderm gesprochen werden, als von dir und deinem Roman. Ich fuhr fort, an Rost zu spannen und George stand mir ehrlich bey. Darüber kamen wir von neuem auf die Frage: ob's möglich sey, daß kein Genie noch etwas eben so vortrefliches, als Werthers Leiden hervorbringe. Rost behauptete schlechterdings nein,| 4 | und ich half ihm Anfangs; hernach wendete ich mich und machte das Gegentheil so wahrscheinlich, daß Rost sich auf einige Zwar ergeben mußte. Aber zum Henker, fiel ich unversehens ein, an die Schurken von Recensenten haben wir noch nicht gedacht! wie werden diese sich bey dieser Erscheinung gebehrden? Rasend möcht' ich werden bei der bloßen Vorstellung so eines Kerls, der mir meinen Werther ausgrübe, um ihn auf das Theatrum anatomicum zu schleppen, ihm das Haupt öfnete, und das Herz, und alle Muskeln und Nerven besichtigte, die Gebeine ablösete, siedete, mit Drat wieder an einander heftete, und ein schnee weißes, künstliches, abscheuliches Skelet davon darstellte; das Meßer hier könnt' ich dem Hund in die Brust jagen! – "Das läßt sich auch gewiß keiner ankommen, erwiederte Rost; es giebt doch noch menschlich Gefühl und Scham in der Welt! – " Menschlich Gefühl, Scham? Hat sich was! Erinnern Sie| 5 | Sich nur der Berliner Litteratur Briefe über Roußeaus Jülie, und das war doch auch ein Buch, ein Buch, wahrhaftig wovon ich nicht weiß, wenn ich mir das Hirn ein wenig zu recht schüttle, ob ich es für Göthens Roman hingäbe. – Rost stutzte. – Ich fuhr fort, prieß die neue Heloise, gieng über zum Homer, zum Ossian, zum Schakespear – was doch das all für Männer sind – den Ariost nicht zu vergessen: aber das ist eben die Zaubermacht des Genies, daß es uns unwiderstehlich in seinen Wirbel schleudert, wo dann alle Sonnen draußen, wie Lämpchen aussehen. – Freylich, freylich, lächelte Rost, und stieg allgemach eine Stuffe nach der andern zu sich selbst herab, erinnerte sich seiner übersetzten Armida aus dem Tasso, nahm sich vor den Rest des Gedichts auch noch ins Deutsche zu bringen, seine schöne Biographie des Dichters noch vortreflicher auszuar| 6 |beiten, und ehestens mit dem Ganzen das deutsche Publikum in Erstaunen zu setzen.

  Beym Weggehn drückte er mir in zärtlicher Ergebenheit die Hand, und hatte gewiß mich von Herzen lieb. – Den folgenden Morgen um 1/2 9 Uhr schickte er mir schon eine Ankündigung des Werthers für die Iris, wovon beykommend die Abschrift. Was sagst du dazu? Gedruckt soll das alberne Ding nicht werden; aber du mußtest es doch sehen!

  Lieber, der arme Rost hat kein Herz; seine Seele ist in seinem Blute; sein Feuer ist bloße Glut der Sinne. Darum hat seine Laidion mir nie recht behagen wollen; ergötzt hat sie mich ausnehmend; aber nicht gerührt, nicht erweckt, mir nicht wohl gethan.

  Ich schrieb dir heute mehr; aber ich muß in den Rath, und dann bin ich auch durch meinen Schwager Clermont aus Vaels verhalten, der

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 39, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0039_00041.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 39.

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