Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 27
Von Johann Kaspar Lavater

11. Mai 1774, Zürich

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Du bist doch ein schlimmer Vogel? Wart
nur; du mußt mir alles beichten, u:
ich lege dir Pönitenz auf, nicht für die
Langeweile! – Nein! Im Ernste – ich
mögte doch, daß dir ein bißchen wöhler
wäre – Glaub's mir, ich genieß auch Freü-
den, immer freyer – kenne süße Freüden
aller Arten, aber wahrlich keine, die mich
mehr, mich unmittelbarer beseeligt, Gott
glauben macht, vergöttlichet, als – "Leidℓ,
um wohl zuthun."


Nun wär's am Louis. "Sinnlichkeit, Tod
der Liebe" – aber, eben Louis! Und doch
Wahrheit in der Brust, nicht Buchstaben-
spiel u: Critik. Ist's canonisch? – Ich
saye gern auch für meinen Nachbar!
Bruder, vielleicht thust du mehr als ich;
aber, es ist mir Beruhigung, es von dir
zuwißen, (ich glaube keinem Menschen | 2 |
auf sein Wort, wie dir) daß du viel Lebℓ
aus deinem ausbreitest.


            =


Unvergleichlich charakteristisch ist die Zeich-
nung des Matrosen. Ich muß sie haben.
Grüße mir den wackern Nothnagel,
wie er gegrüßt seyn will. Er ist so gut, u:
radirt mir diesen neüen Beweis der
Wahrheit der Gesichtssprache. Die Größ' ist
recht. Alles aber bitte, so bestimmt, wie
möglich, zumachen. Lieber etwas zart,
als unbestimmt!


            =


Ich will selbst kommen, Visitation zuhalten
wegen deines Gesichtes; mit dem Schatten
kommt's wenigstens nicht überein. Doch ist's
in seiner Art – von einer gewißen Seite
unaussprechlich sprechend für dich.


            =


Muthwilliger Knabe! Daß du dich mit
Wieland necken magst! Wie klein wird
mir W., seit dem ich dich kenne! Wie be- | 3 |
schränkt der Genius, den ich sonst bewun-
derte! Doch ist er gewiß ein Genius – kein
hoher u: erhabner, aber ein prächtiger u:
reicher – aber gewiß seinem Falle nah. –
Man hat ihn zu hoch erhoben; man wird
ihn zu tief erniedrigen.


Deine Götter u: Helden u: Wieland werd'
ich indeß mit Vergnügen lesen.


Hartmann ist also dein Freünd worden;
wie freüt mich dieß! Du kannst ihm sehr
vieles nützen; thu' es!


Hr: D​ṛ Laß scheint mir, aus allem was
ich weiß zuurtheilen – ein sehr mitelmäs-
siger Kopf zuseyn.


In 8. oder 9. Wochen drük' ich dich an mein
Herz, will's Gott; Denn wir haben den Odem
in der Nase – u: der entfloh meinem
redlichen treüen Vater am lezten Tag sei-
nes 76. Jahres, dℓ 5. May. – Sein Bild
bring ich dir mit.


Pfenninger ist im Hegi. Ich bin immer | 4 |
im Traum, im Wogengedränge, seit
mein Vater todt ist.


   
    J. C. L.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 19  B : an L. und an J. K. Pfenninger, 1774 April 26 (WA IV 2, Nr. 216); 1774 vor Mai 11 (vgl. RA 1, Nr. 27)  A : -  V:  Abschrift 

Reaktion auf "Die Leiden des jungen Werthers". L. genieße auch Freuden, immer freyer, kenne aber keine größere als - ,Leiden, um wohlzuthun'. - Gruß an J. A. B. Nothnagel mit der Bitte, ihm die Zeichnung des Matrosen zu radieren. Wegen G.s Gesicht wolle L. selbst Visitation halten. - Zur Auseinandersetzung G.s mit Wieland: Wie klein wird mir W., seit dem ich dich kenne! [...] Doch ist er gewiß ein Genius [...]. G.s "Götter, Helden und Wieland" werde L. mit Vergnügen lesen. - Er freue sich, daß G. D. Hartmann G.s Freund geworden sei. G. Leß scheine ein sehr mitelmäßiger Kopf zu sein. - In 8. oder 9. Wochen drük' ich dich an mein Herz [...]. - Mitteilung vom Tod des Vaters.

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 Du bist doch ein schlimmer Vogel? Wart nur; du mußt mir alles beichten, u: ich lege dir Pönitenz auf, nicht für die Langeweile! – Nein! Im Ernste – ich mögte doch, daß dir ein bißchen wöhler wäre – Glaub's mir, ich genieß auch Freüden, immer freyer – kenne süße Freüden aller Arten, aber wahrlich keine, die mich mehr, mich unmittelbarer beseeligt, Gott glauben macht, vergöttlichet, als – "Leidℓ, um wohl zuthun."

 Nun wär's am Louis. "Sinnlichkeit, Tod der Liebe" – aber, eben Louis! Und doch Wahrheit in der Brust, nicht Buchstabenspiel u: Critik. Ist's canonisch? – Ich saye gern auch für meinen Nachbar! Bruder, vielleicht thust du mehr als ich; aber, es ist mir Beruhigung, es von dir zuwißen, (ich glaube keinem Menschen| 2 | auf sein Wort, wie dir) daß du viel Lebℓ aus deinem ausbreitest.

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 Unvergleichlich charakteristisch ist die Zeichnung des Matrosen. Ich muß sie haben. Grüße mir den wackern Nothnagel, wie er gegrüßt seyn will. Er ist so gut, u: radirt mir diesen neüen Beweis der Wahrheit der Gesichtssprache. Die Größ' ist recht. Alles aber bitte, so bestimmt, wie möglich, zumachen. Lieber etwas zart, als unbestimmt!

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 Ich will selbst kommen, Visitation zuhalten wegen deines Gesichtes; mit dem Schatten kommt's wenigstens nicht überein. Doch ist's in seiner Art – von einer gewißen Seite unaussprechlich sprechend für dich.

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 Muthwilliger Knabe! Daß du dich mit Wieland necken magst! Wie klein wird mir W., seit dem ich dich kenne! Wie be| 3 |schränkt der Genius, den ich sonst bewunderte! Doch ist er gewiß ein Genius – kein hoher u: erhabner, aber ein prächtiger u: reicher – aber gewiß seinem Falle nah. – Man hat ihn zu hoch erhoben; man wird ihn zu tief erniedrigen.

 Deine Götter u: Helden u: Wieland werd' ich indeß mit Vergnügen lesen.

 Hartmann ist also dein Freünd worden; wie freüt mich dieß! Du kannst ihm sehr vieles nützen; thu' es!

 Hr: D​ṛ Laß scheint mir, aus allem was ich weiß zuurtheilen – ein sehr mitelmässiger Kopf zuseyn.

 In 8. oder 9. Wochen drük' ich dich an mein Herz, will's Gott; Denn wir haben den Odem in der Nase – u: der entfloh meinem redlichen treüen Vater am lezten Tag seines 76. Jahres, dℓ 5. May. – Sein Bild bring ich dir mit.

 Pfenninger ist im Hegi. Ich bin immer| 4 | im Traum, im Wogengedränge, seit mein Vater todt ist.

    J. C. L.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 27, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0027_00029.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 27.

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