Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 16
Von Johann Kaspar Lavater

30. November 1773, Zürich

| 1 |


Mein lieber Bruder,


Gott weiß es, du bist's noch mehr, seit du's
mir gesagt hast: Ich bin kein Christ. Ich
nehm's keiner Seele übel, die nicht glau-
ben kann; aber von denen wend' ich mein
Angesicht, die sagen: Sie glauben, u: nicht
glauben. Wer glaubt? – u: wem ist des
Herrn Arm offenbar?


Aber nun – Bruder, sage mirs, wie du's
sagen kannst; Was hast du wider den Chri-
stus, deßen Name ich zuverherrlichen
dürste, noch nicht verherrliche.


Ich schwöre dir Ehrlichkeit. Sage mir, ist
Christus nicht Gottes Ebenbild u: Urbild
der Menschheit? – u: ich will stille horchen,
was du darwider hast, u: gewiß nicht
schikaniren, u: gewiß nicht Parthey Sache
machen.


Aber von dir – u: deiner empfindsamen | 2 |
Tiefsicht erwart' ich auch, was ich von kei-
nem, keinem unglaübigen, Zweifler,
Spötter erwarte.


Dränge mich, so zeig' ich dir Christus – oder
ich ergreife wider ihn die Feder. Es ist kein
Christ auf Erden; ich bin noch keiner; Aber
du sollst Einer werden – oder ich werde,
was du bist. Innigst umarm' ich meine
Brüder – Nicht Worte geb' ich dir – Geist,
oder nichts. – Rede – ich werde hören,
u: verstehn – denn ich bin – von Ewig-
keit zu Ewigkeit dein Bruder


    L.
   


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  Briefe HA Nr. 12  B : 1773 November vor 30 (vgl. RA 1, Nr. 16)  A : 1773 Dezember vor 28 (vgl. RA 1, Nr. 17)  V:  Abschrift 

Zu G.s Aussage Ich bin kein Christ. : G. möge ihm sagen, was er wider den Christus habe, und L. wolle stille horchen [...] u. gewiß nicht Parthey Sache machen. / Es ist kein Christ auf Erden; ich bin noch keiner; Aber du sollst Einer werden - oder ich werde, was du bist.

| 1 |

Mein lieber Bruder,

 Gott weiß es, du bist's noch mehr, seit du's mir gesagt hast: Ich bin kein Christ. Ich nehm's keiner Seele übel, die nicht glauben kann; aber von denen wend' ich mein Angesicht, die sagen: Sie glauben, u: nicht glauben. Wer glaubt? – u: wem ist des Herrn Arm offenbar?

 Aber nun – Bruder, sage mirs, wie du's sagen kannst; Was hast du wider den Christus, deßen Name ich zuverherrlichen dürste, noch nicht verherrliche.

 Ich schwöre dir Ehrlichkeit. Sage mir, ist Christus nicht Gottes Ebenbild u: Urbild der Menschheit? – u: ich will stille horchen, was du darwider hast, u: gewiß nicht schikaniren, u: gewiß nicht Parthey Sache machen.

 Aber von dir – u: deiner empfindsamen| 2 | Tiefsicht erwart' ich auch, was ich von keinem, keinem unglaübigen, Zweifler, Spötter erwarte.

 Dränge mich, so zeig' ich dir Christus – oder ich ergreife wider ihn die Feder. Es ist kein Christ auf Erden; ich bin noch keiner; Aber du sollst Einer werden – oder ich werde, was du bist. Innigst umarm' ich meine Brüder – Nicht Worte geb' ich dir – Geist, oder nichts. – Rede – ich werde hören, u: verstehn – denn ich bin – von Ewigkeit zu Ewigkeit dein Bruder

  L.  

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 16, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0016_00017.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 16.

Zurück zum Seitenanfang