BuG: BuG I, A 27
Frankfurt März/Apr. 1764

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 310)

Frankfurt März/Apr. 1764

In diesen Tagen kam ich nicht zu mir selbst. Zu Hause gab es zu schreiben und zu copiren; sehen wollte und sollte man alles, und so ging der März zu Ende, dessen zweite Hälfte für uns so festreich gewesen war. Von dem was zuletzt vorgegangen und was am Krönungstag zu erwarten sei, hatte ich Gretchen eine treuliche und ausführliche Belehrung versprochen. Der große Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, wie ich es ihr sagen wollte, als was eigentlich zu sagen sei; ich verarbeitete alles, was mir unter die Augen und unter die Canzleifeder kam, nur geschwind zu diesem nächsten und einzigen Gebrauch. Endlich erreichte ich noch eines Abends ziemlich spät ihre Wohnung, und that mir schon im voraus nicht wenig darauf zu Gute, wie mein dießmaliger Vortrag noch viel besser als der erste unvorbereitete gelingen sollte. Allein gar oft bringt uns selbst, und andern durch uns, ein augenblicklicher Anlaß mehr Freude als der entschiedenste Vorsatz nicht gewähren kann. Zwar fand ich ziemlich dieselbe Gesellschaft, allein es waren einige Unbekannte darunter. Sie setzten sich hin zu spielen; nur Gretchen und der jüngere Vetter hielten sich zu mir und der Schiefertafel. Das liebe Mädchen äußerte gar anmuthig ihr Behagen, daß sie, als eine Fremde, am Wahltage für eine Bürgerin gegolten habe, und ihr dieses einzige Schauspiel zu Theil geworden sei. Sie dankte mir auf’s verbindlichste, daß ich für sie zu sorgen gewußt, und ihr zeither durch Pylades allerlei Einlässe mittelst Billette, Anweisungen, Freunde und Fürsprache zu verschaffen die Aufmerksamkeit gehabt.

Von den Reichs-Kleinodien hörte sie gern erzählen. Ich versprach ihr, daß wir diese wo möglich zusammen sehen wollten. Sie machte einige scherzhafte Anmerkungen, als sie erfuhr, daß man Gewänder und Krone dem jungen König anprobirt habe. Ich wußte, wo sie den Feierlichkeiten des Krönungstages zusehen würde, und machte sie aufmerksam auf alles was bevorstand, und was besonders von ihrem Platze genau beobachtet werden konnte.

So vergaßen wir an die Zeit zu denken; es war schon über Mitternacht geworden, und ich fand, daß ich unglücklicherweise den Hausschlüssel nicht bei mir hatte. Ohne das größte Aufsehen zu erregen konnte ich nicht in’s Haus. Ich theilte ihr meine Verlegenheit mit. „Am Ende, sagte sie, ist es das Beste, die Gesellschaft bleibt zusammen.“ Die Vettern und jene Fremden hatten schon den Gedanken gehabt, weil man nicht wußte, wo man diese für die Nacht unterbringen sollte. Die Sache war bald entschieden; Gretchen ging um Kaffee zu kochen, nachdem sie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine große messingene Familienlampe mit Docht und Öl versehen und angezündet herein gebracht hatte.

Der Kaffee diente für einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber ermattete das Spiel, das Gespräch ging aus; die Mutter schlief im großen Sessel; die Fremden, von der Reise müde, nickten da und dort, Pylades und seine Schöne saßen in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und schlief; auch er wachte nicht lange. Der jüngere Vetter, gegen uns über am Schiefertische sitzend, hatte seine Arme vor sich übereinandergeschlagen und schlief mit aufliegendem Gesichte. Ich saß in der Fensterecke hinter dem Tische und Gretchen neben mir. Wir unterhielten uns leise; aber endlich übermannte auch sie der Schlaf, sie lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter und war gleich eingeschlummert. So saß ich nun allein, wachend, in der wunderlichsten Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wußte. Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war es schon heller Tag. Gretchen stand vor dem Spiegel und rückte ihr Häubchen zurechte; sie war liebenswürdiger als je, und drückte mir als ich schied gar herzlich die Hände. Ich schlich durch einen Umweg nach unserm Hause: denn an der Seite, nach dem kleinen Hirschgraben zu, hatte sich mein Vater in der Mauer ein kleines Guckfenster, nicht ohne Widerspruch des Nachbarn, angelegt. Diese Seite vermieden wir, wenn wir nach Hause kommend von ihm nicht bemerkt sein wollten. Meine Mutter, deren Vermittelung uns immer zu Gute kam, hatte meine Abwesenheit des Morgens bei’m Thee durch ein frühzeitiges Ausgehen meiner zu beschönigen gesucht, und ich empfand also von dieser unschuldigen Nacht keine unangenehmen Folgen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0027 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0027.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 46 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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