BuG: BuG I, A 18
Frankfurt 1762/63

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 196)

Frankfurt 1762/63

Indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es eben so gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntniß des Hebräischen fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten und mit einiger Sicherheit behandeln ließ. Ich eröffnete daher meinem Vater die Nothwendigkeit, Hebräisch zu lernen, und betrieb sehr lebhaft seine Einwilligung: denn ich hatte noch einen höhern Zweck. Überall hörte ich sagen, daß zum Verständniß des Alten Testaments so wie des Neuen die Grundsprachen nöthig wären ...

Mein Vater, der nicht gern etwas halb that, beschloß den Rector unseres Gymnasiums, Doctor Albrecht, um Privatstunden zu ersuchen, die er mir wöchentlich so lange geben sollte, bis ich von einer so einfachen Sprache das Nöthigste gefaßt hätte; denn er hoffte, sie werde, wo nicht so schnell doch wenigstens in doppelter Zeit als die englische sich abthun lassen.

Der Rector Albrecht war eine der originalsten Figuren von der Welt ... Seinem Naturell, das sich zum Aufpassen auf Fehler und Mängel und zur Satire hinneigte, ließ er sowohl in Programmen als in öffentlichen Reden freien Lauf, und wie Lucian fast der einzige Schriftsteller war, den er las und schätzte, so würzte er alles, was er sagte und schrieb, mit beizenden Ingredienzien ...

Diesen seltsamen Mann fand ich mild und willig, als ich anfing meine Stunden bei ihm zu nehmen. Ich ging nun täglich Abends um 6 Uhr zu ihm, und fühlte immer ein heimliches Behagen, wenn sich die Klingelthüre hinter mir schloß, und ich nun den langen düstern Klostergang durchzuwandeln hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek an einem mit Wachstuch beschlagenen Tische; ein sehr durchlesener Lucian kam nie von seiner Seite.

Ungeachtet alles Wohlwollens gelangte ich doch nicht ohne Einstand zur Sache: denn mein Lehrer konnte gewisse spöttische Anmerkungen, und was es denn mit dem Hebräischen eigentlich solle, nicht unterdrücken. Ich verschwieg ihm die Absicht auf das Judendeutsch, und sprach vom besseren Verständniß des Grundtextes. Darauf lächelte er und meinte, ich solle schon zufrieden sein, wenn ich nur lesen lernte. Dieß verdroß mich im Stillen, und ich nahm alle meine Aufmerksamkeit zusammen, als es an die Buchstaben kam ... Ich wäre nun gar zu gern auf diesem alterthümlichen, wie mir schien bequemeren Wege gegangen; allein mein Alter erklärte streng: man müsse nach der Grammatik verfahren wie sie einmal beliebt und verfaßt worden ...

Indem ich nun dasjenige was mir dem Inhalt nach schon bekannt war, in einem fremden kauderwälschen Idiom herstottern sollte, wobei mir denn ein gewisses Näseln und Gurgeln als ein Unerreichbares nicht wenig empfohlen wurde, so kam ich gewissermaßen von der Sache ganz ab, und amüsirte mich auf eine kindische Weise an den seltsamen Namen dieser gehäuften Zeichen ... Lesen, Exponiren, Grammatik, Aufschreiben und Hersagen von Wörtern dauerte selten eine völlige halbe Stunde: denn ich fing sogleich an auf den Sinn der Sache loszugehen, und ob wir gleich noch in dem ersten Buche Mosis befangen waren, mancherlei Dinge zur Sprache zu bringen, welche mir aus den spätem Büchern im Sinne lagen. Anfangs suchte der gute Alte mich von solchen Ausschweifungen zurückzuführen, zuletzt aber schien es ihn selbst zu unterhalten. Er kam nach seiner Art nicht aus dem Husten und Lachen, und wiewohl er sich sehr hütete mir eine Auskunft zu geben, die ihn hätte compromittiren können, so ließ meine Zudringlichkeit doch nicht nach: ja da mir mehr daran gelegen war, meine Zweifel vorzubringen als die Auflösung derselben zu erfahren, so wurde ich immer lebhafter und kühner, wozu er mich durch sein Betragen zu berechtigen schien. Übrigens konnte ich nichts aus ihm bringen, als daß er ein über das andere Mal mit seinem bauchschütternden Lachen ausrief: „Er närrischer Kerl! Er närrischer Junge!“

Indessen mochte ihm meine, die Bibel nach allen Seiten durchkreuzende kindische Lebhaftigkeit doch ziemlich ernsthaft und einiger Nachhülfe werth geschienen haben. Er verwies mich daher nach einiger Zeit auf das große englische Bibelwerk, welches in seiner Bibliothek bereit stand, und in welchem die Auslegung schwerer und bedenklicher Seiten auf eine verständige und kluge Weise unternommen war. Die Übersetzung hatte durch die großen Bemühungen deutscher Gottesgelehrten Vorzüge vor dem Original erhalten. Die verschiedenen Meinungen waren angeführt, und zuletzt eine Art von Vermittelung versucht, wobei die Würde des Buchs, der Grund der Religion und der Menschenverstand einigermaßen neben einander bestehen konnten. So oft ich nun gegen Ende der Stunde mit hergebrachten Fragen und Zweifeln auftrat, so oft deutete er auf das Repositorium; ich holte mir den Band, er ließ mich lesen, blätterte in seinem Lucian, und wenn ich über das Buch meine Anmerkungen machte, war sein gewöhnliches Lachen alles wodurch er meinen Scharfsinn erwiderte. In den langen Sommertagen ließ er mich sitzen so lange ich lesen konnte, manchmal allein; nur dauerte es eine Weile, bis er mir erlaubte einen Band nach dem andern mit nach Hause zu nehmen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0018 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0018.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 25 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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