BuG: BuG I, A 15
Frankfurt Apr. 1762

Dichtung und Wahrheit VII (WA I 27, 124)

Frankfurt Apr. 1762

Ich ward zu meiner Zeit bei einem guten, alten, schwachen Geistlichen [Johann Georg Schmidt], der aber seit vielen Jahren der Beichtvater des Hauses gewesen, in den Religionsunterricht gegeben. Den Katechismus, eine Paraphrase desselben, die Heilsordnung wußte ich an den Fingern herzuerzählen, von den kräftig beweisenden biblischen Sprüchen fehlte mir keiner, aber von alle dem erntete ich keine Frucht; denn als man mir versicherte, daß der brave alte Mann seine Hauptprüfung nach einer alten Formel einrichte, so verlor ich alle Lust und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten acht Tage in allerlei Zerstreuungen ein, legte die von einem ältern Freund erborgten, dem Geistlichen abgewonnenen Blätter in meinen Hut und las gemüth- und sinnlos alles dasjenige her, was ich mit Gemüth und Überzeugung wohl zu äußern gewußt hätte.

Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufstreben in diesem wichtigen Falle durch trocknen geistlosen Schlendrian noch schlimmer paralysirt, als ich mich nunmehr dem Beichtstuhle nahen sollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade das Bewußtsein verringerte sie, weil es mich auf die moralische Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorsatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt über den alten Adam Herr werden sollte. Wir waren belehrt, daß wir eben darum viel besser als die Katholiken seien, weil wir im Beichtstuhl nichts Besonders zu bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht einmal schicklich wäre, selbst wenn wir es thun wollten. Dieses letzte war mir gar nicht recht: denn ich hatte die seltsamsten religiösen Zweifel, die ich gern bei einer solchen Gelegenheit berichtiget hätte. Da nun dieses nicht sein sollte, so verfaßte ich mir eine Beichte, die, indem sie meine Zustände wohl ausdrückte, einem verständigen Manne dasjenige im Allgemeinen bekennen sollte, was mir im Einzelnen zu sagen verboten war. Aber als ich in das alte Barfüßer-Chor hineintrat, mich den wunderlichen vergitterten Schränken näherte, in welchen die geistlichen Herren sich zu diesem Acte einzufinden pflegten, als mir der Glöckner die Thür eröffnete und ich mich nun gegen meinen geistlichen Großvater in dem engen Raume eingesperrt sah, und er mich mit seiner schwachen näselnden Stimme willkommen hieß, erlosch auf einmal alles Licht meines Geistes und Herzens, die wohl memorirte Beichtrede wollte mir nicht über die Lippen, ich schlug in der Verlegenheit das Buch auf, das ich in Händen hatte, und las daraus die erste beste kurze Formel, die so allgemein war, daß ein jeder sie ganz geruhig hätte aussprechen können. Ich empfing die Absolution und entfernte mich weder warm noch kalt, ging den andern Tag mit meinen Eltern zu dem Tische des Herrn, und betrug mich ein paar Tage, wie es sich nach einer so heiligen Handlung wohl ziemte.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0015 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0015.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 22 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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