Goethes Briefe: GB 2, Nr. 95
An Sophie La Roche

〈Frankfurt a. M. , Mitte Februar? 1774〉 → 〈Ehrenbreitstein bei Koblenz〉


Ich dancke Ihnen liebe Mama für die beyden Briefe, sie haben mir die ganze wahre Lage Ihrer Seele ausgedruckt, und ich binn gewiss dass wenn Sie fortfahren in Ihrem eignen Ton über vorwaltende interressante ​ 1 Gegenstände zu schreiben das Ganze eine fürtreffℓ. Würkung thun muss. Nur müssen Sie mir erlauben dass ich Ihnen über die Verbindung und Stellung der Theile meinen guten Rath ertheile. So ist zum Ex. die Apotheose ​ 2 Brechters im zweyten Briefe evident zu früh. Der Altar muss erst gebaut, geziert und geweiht seyn eh die Reliquien hineinverwahrt werden, und ich wünschte dass die ganze Stelle erst weiter hinten, wenn der Charackter und der Sinn s Rosaliens sich mehr entfaltet haben, eingepflanzt zu sehn, wie ich denn auch mit der süsen Melankolie von verirrter Empfindung die den ersten Brief füllt 3 , das Ganze gewürzt sehn möchte, und Sie bitte wenn es nicht zu sehr ausser der Stimmung ihres Vorsazes liegt, die ersten Briefe mit ganz simplem Detail wo Gefühl und Geist nur durchscheint zu eröffnen. Hier haben Sie alles was ich zu sagen habe. Das ​ 4 liebe Weibgen hat Ihnen was von einer Arbeit geschrieben die ich angefangen habe seit Sie weg sind, würcklich angefangen denn ich hatte nie die Idee aus dem Suiet ein einzelnes Ganze zu machen. Sie sollens haben sobalds fertig ist. Nach Düsseldorf kann und mag ich nicht, Sie wissen dass mir's mit gewissen Bekandtschafften geht wie mit gewissen Ländern, ich könnte hundertjahre Reisender seyn ohne Beruf dahin zu fühlen.

G.

  1. I interressante​ ↑
  2. Apotho ​eose​ ↑
  3. füll|t|​ ↑
  4. Die ​as ​ ↑

Aus dem Brief geht hervor, dass er nach Sophie La Roches Abreise aus Frankfurt am 31. Januar und vor Goethes Reise nach Düsseldorf im Juli 1774 geschrieben wurde (vgl. 74,17–18 und 74,20 ). Die Formulierung seit Sie weg sind ( 74,17–18 ) lässt eine Entstehungszeit nicht allzu lange nach dem erstgenannten Datum vermuten. Danach hatte Goethe laut eigener Angabe mit der Arbeit am „Werther“ begonnen (vgl. zu 74,17 ). Von dem Manuskript zu diesem Werk lag am 14. Februar bereits so viel vor, dass Johann Heinrich Merck an diesem Tag an seine Frau schreiben konnte, Goethes neuer Roman verspreche einen ebenso großen Erfolg wie der „Götz“ (vgl. Merck, Briefwechsel 1, 459, Nr 139). Da Goethe einen Brief Maximiliane Brentanos an Sophie La Roche erwähnt, der ebenfalls über die Aufnahme der Arbeit am „Werther“ berichtet (vgl. 74,16–17 ), gehört der vorliegende Brief vermutlich in die zeitliche Nähe des Merck-Briefes und stammt von Mitte Februar 1774. Dazu passt, dass der nächste Brief an Sophie La Roche ( Nr 98 ), der den vorliegenden voraussetzt, auf die zweite Hälfte des Februar datiert werden kann.

H: GSA Weimar, Sign.: 29/294,I, Bl. 7. – 1 Bl. 18,5(–18,8) × 23,4 (–23,5) cm, 1 S. beschr., egh., Tinte, sorgfältig geschrieben; obere rechte Ecke des Blatts abgeschnitten.

E​1: Katalog der Goethe-Ausstellung 1861. Berlin 1861, S. 26, Nr 94 (Teildruck: 74,20–23 Nach Düsseldorf 〈…〉 fühlen.).

E​2: Frese (1877), 144 f., Nr 7.

WA IV 2 (1887), 147 f., Nr 208 (Textkorrekturen in den „Berichtigungen“; vgl. WA IV 50 [1912], 209).

Der Brief beantwortet eine Manuskriptsendung Sophie La Roches (vgl. zu 74,1 ); ein Begleitbrief ist nicht überliefert. – Der Antwortbrief, den Goethe mit Nr 98 erwiderte, ist ebenfalls nicht überliefert.

die beyden Briefe] Gemeint sind Manuskriptteile von Sophie La Roches „Freundschaftlichen Frauenzimmer-Briefen“, die 1775/76 in Johann Georg Jacobis „Iris“ erschienen, später dann selbstständig unter dem Titel „Rosaliens Briefe an ihre Freundinn Mariane von St**“ (3 Bde. Altenburg 1779–1781). Das Manuskript ist nicht überliefert.

die Apotheose Brechters 〈…〉 zu früh] Der Diakon Johann Jakob Brechter hatte Sophie La Roche zu schriftstellerischer Arbeit angeregt (vgl. Werner Milch: Sophie La Roche. Die Großmutter der Brentanos. Frankfurt a. M. 1933, S. 81 f.). In „Rosaliens Briefen“ führt Sophie La Roche ihn – offenbar Goethes Rat folgend – erst im 13. Brief ein, als „Pfarrer M**. K**., einer der würdigsten Männer seines Standes“ (Rosaliens Briefe. Bd. 1, S. 65; vgl. auch Iris. 3. Bd. 2. Stück. Mai 1775, S. 106–113).

der Sinn s] Schreibversehen.

mit der süsen Melankolie 〈…〉 die den ersten Brief füllt] Der 1. Brief der „Freundschaftlichen Frauenzimmer-Briefe“ beginnt: „Lassen Sie mich, meine geliebte, so lang gewünschte Freundinn, einige Thränen über mein Schicksal weinen, das mich von Ihnen entfernt, und alle die süßen Freuden zerstört, die mir Ihre Güte und Ihr Geist wechselsweise schenkten. Was ist Leben, Glück und Wissen, wenn es nicht von antheilnehmender Liebe und Freundschaft mit genossen wird?“ (Iris. 2. Bd. 2. Stück. Februar 1775, S. 115.)

Das liebe Weibgen] Maximiliane Brentano, Sophie La Roches Tochter.

Arbeit] „Die Leiden des jungen Werthers“; Anfang Mai berichtet Goethe von der Beendigung des Romans (vgl. 86,15 ).

hatte nie die Idee 〈…〉 einzelnes Ganze zu machen] Daraus scheint hervorzugehen, dass Goethe zunächst beabsichtigt hatte, den Werther-Stoff in mehreren Werken zu behandeln.

Nach Düsseldorf] Gemeint ist: zu den Brüdern Jacobi. Über das gespannte Verhältnis zwischen Goethe und den Jacobis vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 134 . Im Juli besuchte Goethe auf seiner Rheinreise auch Düsseldorf und lernte Friedrich Heinrich Jacobi kennen.

Beruf] Hier noch in der älteren Bedeutung: „Neigung, innerlicher Trieb“ (Adelung 1, 886).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 95 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR095_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 74, Nr 95 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 203–205, Nr 95 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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