Goethes Briefe: GB 2, Nr. 94
An Johann Heinrich Merck

〈Frankfurt a. M. , erste Hälfte Februar? 1774〉 → 〈Darmstadt〉


Schicke dir hier in altem Kleid Ein neues Kindlein wohl bereit, Und ist's nichts weiters auf der Bahn, Hats immer alte Hosen an. Wir Neuen​ 1 sind ia solche Hasen, Sehn immer nach den alten Nasen, Und hast ia auch wies ieder schaut, Dir Neuen ein altes Haus gebaut. Darum wies steht sodann geschrieben, Im Evangelium da drüben, Dass sich der neu Most so erweist, Dass er die alten Schläuch zerreisst. Ist fast das Gegeteil so wahr Das alt die iungen Schläuch reisst gar. Und können wir nicht tragen mehr Krebs, Panzerhemd, Helm, Schwerdt u Speer, Und erliegen​ 2 darunter todt Wie Ameis unterm Schollenkoth, So ist doch immer unser Muth Wahrhafftig wahr und bieder gut. Und allen Perrückeurs und Fratzen Und allen Literarschen Katzen Und Räthen, Schreibern, Maidels, Kindern, Und wissenschafftℓ schönen Sündern, Sey Troz und Hohn gesprochen hier Und Hass und Aerger für u. für. Weissen wir so diesen Philistern Critikastern und ihren Geschwistern Wohl ein ieder aus seinem Haus Seinen Arsch zum Fenster hinaus.
  1. n ​Neuen​ ↑
  2. erl× ​iegen​ ↑

Anhaltspunkte zur Datierung bieten der Umstand, dass die Verse die Übersendung des „Götz von Berlichingen“ begleiteten, sowie die Anspielung auf einen Wohnungswechsel Mercks (vgl. 73,7–8 ). Hermann Bräuning-Oktavio war der Meinung, die Erwähnung des Hauses beziehe sich auf Mercks Umzug in eine neue (Miet-)Wohnung im Dezember 1772 und der Gedichtbrief habe Ende März/Anfang April 1773 dem Manuskript der zweiten Fassung des „Götz“ beigelegen, das als Druckvorlage für die 1. Auflage von Juni 1773 diente (vgl. Datierung einer Goethe'schen Epistel. In: GJb XXXIII [1912], 190–197). Vieles spricht jedoch dafür, den Brief in einen anderen Zusammenhang zu stellen: Goethe überschickt die 2. Auflage des „Götz“, die „wohl Anfang Jan 1774“ erschienen war (QuZ 4, 740, Anm. 1), und bezieht sich auf Mercks Hauskauf, den dieser intensiv seit Januar 1774 betrieb und der Ende Februar 1774 abgeschlossen war (vgl. Mercks Brief an seine Frau Louise, 27. Februar 1774; Merck, Briefwechsel 1, 471–474, Nr 141). Zunächst spricht Goethe zweimal ausdrücklich von Haus ( 73,8 ; 73,29 ), nicht von ‚Wohnung‘. Zudem setzen die letzten vier Verse eher einen Hausbesitzer als einen Mieter voraus; sie lassen sich außerdem als derb-metaphorische Anspielung auf die beiden Auflagen des „Götz“ verstehen: Merck hatte die 1. Auflage im Selbstverlag besorgt, Goethe hatte (da sich Merck von Mai bis Dezember 1773 in St. Petersburg aufhielt) die 2. Auflage bei den Eichenbergischen Erben in Frankfurt erscheinen lassen. Wenn in den Versen von Philistern ( 73,27 ) und Critikastern ( 73,28 ) die Rede ist, so dürfte sich dies auf Kritiker der 1. Auflage (wie Christian Heinrich Schmid [vgl. zu 47,6 ]) beziehen. Schließlich werden so auch die Verse 73,3 und 73,4 verständlich: Die Verse spielen die Neuerscheinung der 2. Auflage herunter, die nicht mehr bei Merck veranstaltet wurde. All dies legt nahe, den vorliegenden Brief auf Februar 1774 zu datieren. Ende Januar hatte sich ein erster Kaufplan Mercks, das Haus des Darmstädter Kriegsrats Christian Allgeier betreffend, zerschlagen, und Merck bemühte sich um ein anderes Haus, das er schließlich Ende Februar erwarb. Dass Goethe seinem Freund erst danach, also im März, den längst erschienenen „Götz“ geschickt haben soll, ist nicht wahrscheinlich. Der vorliegende Brief könnte etwa zur gleichen Zeit geschrieben worden sein wie der an Gottfried August Bürger vom 12. Februar ( Nr 93 ), mit dem Goethe ebenfalls ein Exemplar des „Götz“ verschickte. In diesem Fall stammt der Brief aus der ersten Hälfte des Februar 1774 und entstand zu einem Zeitpunkt, als Goethe den Erwerb des Hauses durch Merck für eine ausgemachte Sache halten konnte. (Nach freundlichen Mitteilungen von Ulrike Leuschner, Darmstadt.)

Dass Merck der Adressat ist, geht nicht nur aus dem Umstand hervor, dass der Brief in dessen Nachlass in Darmstadt aufgefunden wurde (vgl. Bräuning-Oktavio [s. Datierung], 191), sondern es spricht dafür auch die Überlegung, dass Goethe zur damaligen Zeit in solch derbem Ton nur mit Merck verkehrte (vgl. ebd.). Weitere Briefe an Merck in Gedichtform sind Nr 165 , 166 und 177 .

H: Verbleib unbekannt; nach Gustav von Loepers Angabe „seit Mercks Tagen in Darmstadt aufbewahrt“ (WA IV 50, 205), egh. (Angabe nach dem Faksimile). – Faksimile: GSA Weimar, Sign.: 25/V,4,3 (Pause von H aus dem Besitz Gustav von Loepers).

E: Zum Acht und Zwanzigsten August 1880. Erster Druck einer gereimten Epistel Goethe's. [Hrsg. von Gustav von Loeper.] Berlin 1880 (Privatdruck).

WA IV 2 (1887), 9 f., Nr 84 (nach E; mit Korrektur der Datierung nach DjG​2 in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 205).

Textgrundlage: Faksimile.

1 Exemplar des „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Zwote Auflage“ (vgl. 73,1–4 ).

Ein Bezugs- und ein Antwortbrief sind nicht bekannt.

Johann Heinrich Merck (1741–1791), Sohn eines Darmstädter Apothekers, bezog am 17. Oktober 1757 die Universität Gießen, um Theologie zu studieren. Am 7. Juni 1759 immatrikulierte er sich als Theologiestudent in Erlangen. Dort beschäftigte er sich nach seinem Beitritt zur Teutschen Gesellschaft weniger mit theologischen Studien als mit Literatur und Literaturgeschichte sowie mit Übersetzungen aus dem Englischen; Mercks nicht überlieferter Antrittsvortrag galt dem Thema „Die Schicksale der tragischen Muse bei den Alten und Neuern“ (vgl. Walter Schübler: Johann Heinrich Merck 1741–1791. Biographie. Weimar 2001, S. 17). Im Spätsommer 1762 ging Merck an die Dresdner Kunstschule. Doch bereits ein Jahr später, am 11. Juli 1763, immatrikulierte er sich noch einmal, und zwar in Leipzig als Hofmeister zusammen mit seinem Zögling Heinrich Wilhelm von Bibra. Ohne sein Studium abgeschlossen zu haben, begleitete Merck von Bibra auf dessen Kavaliersreise. Im Frühsommer 1765 hielt er sich in Morges am Genfer See auf. Dort lernte er Louise (Lisette) Françoise Charbonnier kennen; 1766 heiratete er sie. Das Paar ließ sich in Darmstadt nieder, und Merck trat in herzogliche Dienste. 1767 wurde er Sekretär bei der Geheimen Kanzlei am Darmstädter Hof, ein Jahr später Kriegszahlmeister des Herzogs Ludwig IX.; er erhielt 1774 schließlich das Amt eines Kriegsrates.

Goethe lernte Merck durch dessen Studiengenossen Johann Georg Schlosser im Dezember 1771 in Frankfurt kennen. Ende Februar/Anfang März 1772 besuchte er ihn in Darmstadt. Im 12. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ schildert Goethe ihn aus der Erinnerung: Mit Verstand und Geist geboren, hatte er sich sehr schöne Kenntnisse, besonders der neueren Literaturen, erworben, und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Gegenden umgesehn. Treffend und scharf zu urtheilen war ihm gegeben. Man schätzte ihn als einen wackern entschlossenen Geschäftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er überall ein, als ein sehr angenehmer Gesellschafter für die, denen er sich durch beißende Züge nicht furchtbar gemacht hatte. 〈…〉 In seinem Character lag ein wunderbares Mißverhältniß: von Natur ein braver, edler, zuverlässiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert, und ließ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, daß er eine unüberwindliche Neigung fühlte, vorsätzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu seyn. Verständig, ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke ihre Hörner hervorstreckt, irgend etwas zu thun, was einen andern kränkte, verletzte, ja was ihm schädlich ward. (AA DuW 1, 419.) Dieser eigne Mann habe, schrieb Goethe, auf mein Leben den größten Einfluß gehabt (ebd.). Dies gilt, obwohl eine intensive Beziehung zu Merck nur in den Jahren 1772–1775 bestand. Goethe selbst war anfangs der um die Freundschaft des Älteren Werbende, den er als analytischen Denker ebenso bewunderte wie als Zeichner und etablierten Familienvater. Merck gewann Goethe als Mitarbeiter an den von ihm zeitweise herausgegebenen FGA; er begleitete wohlwollend fördernd, aber auch mit schonungsloser Kritik Goethes poetische Produktion und betätigte sich als dessen Herausgeber: So erschien u. a. der überarbeitete „Götz von Berlichingen“ 1773 bei Merck im Selbstverlag. Mercks aufklärerisches Literaturverständnis setzte dem Einvernehmen freilich Grenzen wie im Fall des „Clavigo“ und des „Werther“. Nach 1773 verlor Merck die Rolle des ästhetischen Ratgebers zunehmend. Als scharfsichtiger Beobachter der Gesellschaft, als Geschäftsmann und Diplomat sowie als Gesprächspartner in naturwissenschaftlichen Fragen blieb er für Goethe jedoch auch weiterhin von Bedeutung. Das freundschaftliche Verhältnis hingegen kühlte sich nach Goethes Übersiedlung nach Weimar ab, nicht zuletzt weil Merck Goethes Hofkarriere strikt ablehnte. Belastend wirkte in den Jahren von 1780 an die gemeinsame Forschung über den Zwischenkieferknochen des Menschen, die beide zu Konkurrenten machte. Trotz allem blieb eine innere Bindung bestehen. Ende der 80er Jahre nahm Merck den Kontakt zu Goethe wieder auf; in finanzieller Not wandte er sich (in Briefen vom 3. August und vom 18. Oktober 1788; Merck, Briefwechsel 4, 541 f., Nr 957; 4, 551 f., Nr 963) an Goethe, der im letzten seiner 46 überlieferten Briefe an Merck (vom 10. November 1788) mit freundlichem Zuspruch antwortete (vgl. WA IV 9, 54 f., Nr 2699). Etliche der Briefe Goethes an Merck sind nicht erhalten, darunter solche aus dem Jahr 1772 über Charlotte Buff: „cette fille dont il parle avec tant d'Enthousiasme dans toutes ses Lettres.“ (Merck an seine Frau Louise, 18. August 1772; Merck, Briefwechsel 1, 325, Nr 102. – „〈…〉 das Mädchen, von dem er in allen seinen Briefen mit so viel Begeisterung spricht.“ [Ebd., 326].)

Mercks Neigung zu Sarkasmus und Spott, zu desillusionierender Analyse von Literatur und Gesellschaft, in welcher er Goethes früherem Freund und Mentor Ernst Wolfgang Behrisch glich (vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 18 ), wurde durch eine langwierige Krankheit zu Verbitterung und Hypochondrie gesteigert. Nach geschäftlichen Misserfolgen nahm sich er sich am 27. Juni 1791 das Leben. Am 2. und 9. Juli 1797 hat Goethe die Briefe verbrannt (vgl. GT II 1, 119 und 120), die er seit 1772 erhalten hatte, „darunter ihn diejenigen des Selbsttödters Merk wegen ihres Geistesinhalts zwei Tage Ueberwindung kosteten.“ (BG 4, 334.) Bis auf fünf sind die Briefe Mercks verloren gegangen (vgl. Merck, Briefwechsel 3, Nr 527, 672, 674; 4, Nr 957, 963). – Der vorliegende Gedichtbrief besteht aus Knittelversen (vgl. die einleitende Erläuterung zu Nr 44 ).

in altem Kleid] Bezieht sich auf die 1. Auflage des „Götz“.

Ein neues Kindlein] Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Zwote Auflage. Frankfurt am Mayn bey den Eichenbergischen Erben 1774.

Und ist's nichts weiters auf der Bahn] ‚Und hat es auch nichts weiter damit auf sich‘ (vgl. GWb 2, 17).

Wir Neuen 〈…〉 alten Nasen] Möglicherweise eine Anspielung auf die von Nicolas Boileau-Despréaux' „L'art poétique“ (1674) ausgelöste ‚Querelle des anciens et des modernes‘, den zunächst in Frankreich geführten Streit über die Frage, ob die antiken Dichter den modernen überlegen seien oder ob es sich umgekehrt verhalte.

Und hast 〈…〉 Haus gebaut] Vgl. Datierung.

Darum 〈…〉 zerreisst.] Bei Matthäus 9,17 heißt es: „Man fasset auch nicht Most in alte Schläuche, anders, die Schläuche zerreissen, und der Most wird verschüttet, und die Schläuche kommen um 〈…〉. Sondern man fasset Most in neue Schläuche, so werden sie beide mit einander behalten.“ (Luther-Bibel 1768 NT, 20.) Vgl. auch Markus 2,22.

Gegeteil] Wahrscheinlich frankfurterisch für ‚Gegenteil‘.

Das alt 〈…〉 reisst gar] Gemeint ist wohl, dass der alte Text auch in der neuen Auflage seine Wirkung tun und in der Öffentlichkeit zu Auseinandersetzungen führen werde.

Krebs] Eine „veraltete Art des Brustharnisches“ (Adelung 2, 1765), so genannt wegen der Ähnlichkeit mit einer Krebsschale.

Schollenkoth] Scholle hier: „klumpen von erde“ (Grimm 9, 1453); Kot: „Unreinigkeit, welche in der niedrigern Sprechart Dreck genannt wird“ (Adelung 2, 1783). Zum Begriff ‚Schollenkot‘ bietet Grimm die vorliegende Briefstelle ohne weitere Erklärung als einzigen Beleg (vgl. Grimm 9, 1456).

Perrückeurs] Perückenträger.

wissenschafftℓ schönen Sündern] Enallage; gemeint ist: Sündern in den schönen Wissenschaften; möglicherweise eine Anspielung auf Herausgeber und Mitarbeiter eines literaturkritischen Journals wie z. B. Friedrich Nicolais „(Neue) Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste“.

Philistern] Philister im Verständnis des 18. Jahrhunderts: „Mensch von beengter Lebensauffassung“ (Goethe-Wortschatz, 478); in der Studentensprache Bezeichnung für Nicht-Studenten, ‚Ungebildete‘; im Alten Testament Name eines nichtsemitischen Volkes, das mit Israel verfeindet war.

Critikastern] Nach dem Vorbild von lat. philosophaster (Scheinphilosoph) gebildet: „kleiner eingebildeter kritiker“ (Grimm 5, 2336).

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 94 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR094_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 73, Nr 94 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 199–203, Nr 94 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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