BuG: BuG I, A 159
Straßburg Okt./Dez. 1770

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 305)

Straßburg Okt./Dez. 1770

Er [Herder] entschloß sich, theils weil er sich vom Prinzen abzusondern gedachte, theils eines Augenübels wegen, in Straßburg zu verweilen ...

Der Entschluß war gefaßt, sich durch Lobstein operiren zu lassen. Hier kamen mir jene Übungen gut zu statten, durch die ich meine Empfindlichkeit abzustumpfen versucht hatte; ich konnte der Operation beiwohnen und einem so werthen Manne auf mancherlei Weise dienstlich und behülflich sein. Hier fand ich nun alle Ursache, seine große Standhaftigkeit und Geduld zu bewundern: denn weder bei den vielfachen chirurgischen Verwundungen, noch bei dem oftmals wiederholten schmerzlichen Verbande bewies er sich im mindesten verdrießlich, und er schien derjenige von uns zu sein, der am wenigsten litt; aber in der Zwischenzeit hatten wir freilich den Wechsel seiner Laune vielfach zu ertragen. Ich sage wir: denn es war außer mir ein behaglicher Russe, Namens Peglow, meistens um ihn. Dieser ... suchte sich, obgleich kein Jüngling mehr, noch in der Chirurgie unter Lobsteins Anleitung zu vervollkommnen. Herder konnte allerliebst einnehmend und geistreich sein, aber eben so leicht eine verdrießliche Seite hervorkehren ...

Die ganze Zeit dieser Cur besuchte ich Herdern Morgens und Abends; ich blieb auch wohl ganze Tage bei ihm und gewöhnte mich in Kurzem um so mehr an sein Schelten und Tadeln, als ich seine schönen und großen Eigenschaften, seine ausgebreiteten Kenntnisse, seine tiefen Einsichten täglich mehr schätzen lernte. Die Einwirkung dieses gutmüthigen Polterers war groß und bedeutend ... Da seine Gespräche jederzeit bedeutend waren, er mochte fragen, antworten oder sich sonst auf eine Weise mittheilen, so mußte er mich zu neuen Ansichten täglich, ja stündlich befördern ... Was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. Nun wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien.

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 309)

Straßburg Okt./Dez. 1770

Wir hatten nicht lange auf diese Weise zusammengelebt, als er [Herder] mir vertraute, daß er sich um den Preis, welcher auf die beste Schrift über den Ursprung der Sprachen von Berlin ausgesetzt war, mit zu bewerben gedenke. Seine Arbeit war schon ihrer Vollendung nahe, und wie er eine sehr reinliche Hand schrieb, so konnte er mir bald ein lesbares Manuscript heftweise mittheilen ...

Ich las die Abhandlung mit großem Vergnügen und zu meiner besondern Kräftigung; allein ich stand nicht hoch genug, weder im Wissen noch im Denken, um ein Urtheil darüber zu begründen. Ich bezeigte dem Verfasser daher meinen Beifall, indem ich nur wenige Bemerkungen, die aus meiner Sinnesweise herflossen, hinzufügte. Eins aber wurde wie das andere aufgenommen; man wurde gescholten und getadelt, man mochte nun bedingt oder unbedingt zustimmen. Der dicke Chirurgus [Pegelow] hatte weniger Geduld als ich; er lehnte die Mittheilung dieser Preisschrift humoristisch ab, und versicherte, daß er gar nicht eingerichtet sei, über so abstracte Materien zu denken. Er drang vielmehr auf’s L’hombre, welches wir gewöhnlich Abends zusammen spielten.

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 311)

Straßburg Okt./Dez. 1770

Ich hatte ... die von Langern eingetauschten Autoren, und dazu noch verschiedene schöne Ausgaben aus meines Vaters Sammlung, mit nach Straßburg genommen und sie auf einem reinlichen Bücherbrett aufgestellt, mit dem besten Willen, sie zu benutzen. Wie sollte aber die Zeit zureichen, die ich in hunderterlei Thätigkeiten zersplitterte. Herder, der auf Bücher höchst aufmerksam war, weil er deren jeden Augenblick bedurfte, gewahrte bei’m ersten Besuch meine schöne Sammlung, aber auch bald, daß ich mich derselben gar nicht bediente; deßwegen er, als der größte Feind alles Scheins und aller Ostentation, bei Gelegenheit mich damit aufzuziehen pflegte.

Noch ein anderes Spottgedicht fällt mir ein, das er mir Abends nachsendete, als ich ihm von der Dresdner Galerie viel erzählt hatte. Freilich war ich in den höhern Sinn der italiänischen Schule nicht eingedrungen, aber Dominico Feti, ein trefflicher Künstler, wiewohl Humorist und also nicht vom ersten Range, hatte mich sehr angesprochen ... Über diesen meinen kindlichen Kunstenthusiasmus spottete Herder folgendergestalt:

  Aus Sympathie   Behagt mir besonders ein Meister,   Dominico Feti heißt er.   Der parodirt die biblische Parabel   So hübsch zu einer Narrenfabel,   Aus Sympathie. – Du närrische Parabel!

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 313)

Straßburg Okt./Dez. 1770

Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, welche er [Herder] nach seinem Vorgänger Lowth geistreich behandelte, die Volkspoesie, deren Überlieferungen im Elsaß aufzusuchen er uns antrieb, die ältesten Urkunden als Poesie, gaben das Zeugniß, daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privat-Erbtheil einiger feinen gebildeten Männer. Ich verschlang das alles, und je heftiger ich im Empfangen, desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten Stunden zusammen zu. Meine übrigen angefangenen Naturstudien suchte ich fortzusetzen, und da man immer Zeit genug hat, wenn man sie gut anwenden will, so gelang mir mitunter das Doppelte und Dreifache. Was die Fülle dieser wenigen Wochen betrifft, welche wir zusammen lebten, kann ich wohl sagen, daß alles, was Herder nachher allmählich ausgeführt hat, im Keim angedeutet ward, und daß ich dadurch in die glückliche Lage gerieth, alles was ich bisher gedacht, gelernt, mir zugeeignet hatte, zu complettiren, an ein Höheres anzuknüpfen, zu erweitern. Wäre Herder methodischer gewesen, so hätte ich auch für eine dauerhafte Richtung meiner Bildung die köstlichste Anleitung gefunden; aber er war mehr geneigt zu prüfen und anzuregen, als zu führen und zu leiten. So machte er mich zuerst mit Hamanns Schriften bekannt, auf die er einen sehr großen Werth setzte. Anstatt mich aber über dieselben zu belehren und mir den Hang und Gang dieses außerordentlichen Geistes begreiflich zu machen, so diente es ihm gewöhnlich nur zur Belustigung, wenn ich mich, um zu dem Verständniß solcher sibyllischen Blätter zu gelangen, freilich wunderlich genug gebärdete. Indessen fühlte ich wohl, daß mir in Hamanns Schriften etwas zusagte, dem ich mich überließ, ohne zu wissen, woher es komme und wohin es führe.

Herder an Merck 1772 (Wagner1 S. 44)

B2 20

Straßburg Okt./Dez. 1770

Göthe fieng Homer in Straßburg zu lesen an, und alle Helden wurden bei ihm so schön, groß und frei watende Störche; er steht mir allemal vor, wenn ich an eine so recht ehrliche Stelle komme, da der Altvater über seine Leier sieht (wenn er sehen konnte) und in seinen ansehnlichen Bart lächelt.

J. H. Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Grollmann S. 277)

B2 21

Straßburg Okt./Dez. 1770

Herr Göthe gab ihm [Stilling] in Ansehung der schönen Wissenschaft einen andern Schwung. Er machte ihn mit Ossian, Shakespeare, Fielding und Sterne bekannt; und so gerieth Stilling aus der Natur ohne Umwege wieder in die Natur ...

Diesen Winter kam Herr Herder nach Straßburg. Stilling wurde durch Göthe und Troost mit ihm bekannt.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0159 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0159.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 167 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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