BuG: BuG I, A 22
Frankfurt Frühj./Sommer 1763

Dichtung und Wahrheit IV (WA I 26, 242)

Frankfurt Frühj./Sommer 1763

Ein ... Bret ward dem Mahler Junker anvertraut, der einen verzierten Blumentopf mit den bedeutendsten Blumen nach der Natur in seiner künstlichen und zierlichen Weise darauf darstellen sollte. Es war gerade im Frühling, und ich versäumte nicht, ihm wöchentlich einigemal die schönsten Blumen zu bringen die mir unter die Hand kamen; welche er denn auch sogleich einschaltete, und das Ganze nach und nach aus diesen Elementen auf das treulichste und fleißigste zusammenbildete. Gelegentlich hatte ich auch wohl einmal eine Maus gefangen, die ich ihm brachte, und die er als ein gar so zierliches Thier nachzubilden Lust hatte, auch sie wirklich auf’s genaueste vorstellte, wie sie am Fuße des Blumentopfes eine Kornähre benascht. Mehr dergleichen unschuldige Naturgegenstände, als Schmetterlinge und Käfer, wurden herbeigeschafft und dargestellt, so daß zuletzt, was Nachahmung und Ausführung betraf, ein höchst schätzbares Bild beisammen war.

Ich wunderte mich daher nicht wenig, als der gute Mann mir eines Tages, da die Arbeit bald abgeliefert werden sollte, umständlich eröffnete, wie ihm das Bild nicht mehr gefalle, indem es wohl im Einzelnen ganz gut gerathen, im Ganzen aber nicht gut componirt sei, weil es so nach und nach entstanden, und er im Anfange das Versehen begangen, sich nicht wenigstens einen allgemeinen Plan für Licht und Schatten so wie für Farben zu entwerfen, nach welchem man die einzelnen Blumen hätte einordnen können. Er ging mit mir das während eines halben Jahrs vor meinen Augen entstandene und mir theilweise gefällige Bild umständlich durch, und wußte mich zu meiner Betrübniß vollkommen zu überzeugen. Auch hielt er die nachgebildete Maus für einen Mißgriff: denn, sagte er, solche Thiere haben für viele Menschen etwas Schauderhaftes, und man sollte sie da nicht anbringen, wo man Gefallen erregen will. Ich hatte nun, wie es demjenigen zu gehen pflegt, der sich von einem Vorurtheile geheilt sieht und sich viel klüger dünkt als er vorher gewesen, eine wahre Verachtung gegen dieß Kunstwerk, und stimmte dem Künstler völlig bei, als er eine andere Tafel von gleicher Größe verfertigen ließ, worauf er, nach dem Geschmack den er besaß, ein besser geformtes Gefäß und einen kunstreicher geordneten Blumenstrauß anbrachte, auch die lebendigen kleinen Beiwesen zierlich und erfreulich sowohl zu wählen als zu vertheilen wußte. Auch diese Tafel mahlte er mit der größten Sorgfalt, doch freilich nur nach jener schon abgebildeten, oder aus dem Gedächtniß, das ihm aber bei einer sehr langen und emsigen Praxis gar wohl zu Hülfe kam. Beide Gemählde waren nun fertig, und wir hatten eine entschiedene Freude an dem letzten, das wirklich kunstreicher und mehr in die Augen fiel. Der Vater ward anstatt mit einem mit zwei Stücken überrascht und ihm die Wahl gelassen. Er billigte unsere Meinung und die Gründe derselben, besonders auch den guten Willen und die Thätigkeit; entschied sich aber, nachdem er beide Bilder einige Tage betrachtet, für das erste, ohne über diese Wahl weiter viele Worte zu machen. Der Künstler ärgerlich, nahm sein zweites, wohlgemeintes Bild zurück, und konnte sich gegen mich der Bemerkung nicht enthalten, daß die gute eichne Tafel, worauf das erste gemahlt stehe, zum Entschluß des Vaters gewiß das Ihrige beigetragen habe.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0022 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0022.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 31 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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