Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 6
Von Johann Georg Christian Kestner

vor 10. Oktober 1772, Wetzlar

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Goué soll sich, wie man für gewiß versichert; zu
Cassel erschossen haben. Ich glaube es gern; und na-
türlicher Weise mußte es so kommen; ich habe es so-
gar längst geweissaget. Schon vor 8 Tagen hieß es,
er sey Schulden wegen zu Cassel arretiret; vermuth-
lich hat ihn dieses determiniret.


   Soeben bekomme ich Ihren Brief. Immer angenehm,
wenn er auch nur aus ein Paar Zeilen bestünde; doch
noch angenehmer, wenn er noch länger wäre.
Gebt Euch doch nicht mit Pfaffen ab. Vater
Haller sagt: Was Böses ist geschehn, das
nicht ein Pfaffe that. Sie erlauben sich alles,
wenn sie nur der Sache einen Anstrich von
der Ehre Gottes geben können. Der Anschlag
des Publici ist mehrentheils für die Geistlichen;
und so unbeträchtlich solcher an sich ist, hat er
doch oft einen Einfluß auf unsere Ruhe. Ich
lobe mir den äuserlich ruhigen Bürger; mag
er sonst dencken, was er für sich zu verant-
worten glaubt.   Freylich wär es gescheuter,
sich zu Lottchens Füssen mit den Bubens
herumschlagen.   Im teutschen Haus gehts
wie immer. Dem Schein nach ein ewiges Einerley,
aber im Grunde doch mancherley Abwechselung.
Freud u. Einigkeit, aber doch so viel nöthig mit | 2 |
etwas Zanck gewürzt. Dorthel
schließt sich noch immer an. Diesen Augenblick
bin ich boshaft genug, mich zu freuen, daß
Sie nicht hier sind und Lottchen das nicht
sagen können, was ich vorgeblich nicht wis-
sen darf.


S:  Stadtarchiv Hannover  D:  Ausstellungskatalog: Werther Nr. 16 (T)  B : 1772 Oktober 6 (WA IV 2, Nr. 99)  A : 1772 Oktober 10 (WA IV 2, Nr. 101)  V:  Konzept 

A. F. S. von Goué solle sich zu Cassel erschossen haben; er solle Schulden wegen [...] arretiert worden sein. - Soeben habe er G.s Brief erhalten: Gebt Euch doch nicht mit Pfaffen ab, Vater Haller sagt: Was Böses ist geschehen, das nicht ein Pfaffe that (A. von Haller "Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, 1729). Diese würden sich zur Ehre Gottes alles erlauben und oft einen Einfluß auf unsere Ruhe haben. - Über das Ergehen im teutschen Haus. / Diesen Augenblick bin ich boshaft genug, mich zu freuen, daß Sie nicht hier sind und Lottchen das nicht sagen können, was ich vorgeblich nicht wissen darf.

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 Goué soll sich, wie man für gewiß versichert; zu Cassel erschossen haben. Ich glaube es gern; und natürlicher Weise mußte es so kommen; ich habe es sogar längst geweissaget. Schon vor 8 Tagen hieß es, er sey Schulden wegen zu Cassel arretiret; vermuthlich hat ihn dieses determiniret.

  Soeben bekomme ich Ihren Brief. Immer angenehm, wenn er auch nur aus ein Paar Zeilen bestünde; doch noch angenehmer, wenn er noch länger wäre. Gebt Euch doch nicht mit Pfaffen ab. Vater Haller sagt: Was Böses ist geschehn, das nicht ein Pfaffe that. Sie erlauben sich alles, wenn sie nur der Sache einen Anstrich von der Ehre Gottes geben können. Der Anschlag des Publici ist mehrentheils für die Geistlichen; und so unbeträchtlich solcher an sich ist, hat er doch oft einen Einfluß auf unsere Ruhe. Ich lobe mir den äuserlich ruhigen Bürger; mag er sonst dencken, was er für sich zu verantworten glaubt. Freylich wär es gescheuter, sich zu Lottchens Füssen mit den Bubens herumschlagen. Im teutschen Haus gehts wie immer. Dem Schein nach ein ewiges Einerley, aber im Grunde doch mancherley Abwechselung. Freud u. Einigkeit, aber doch so viel nöthig mit| 2 | etwas Zanck gewürzt. Dorthel schließt sich noch immer an. Diesen Augenblick bin ich boshaft genug, mich zu freuen, daß Sie nicht hier sind und Lottchen das nicht sagen können, was ich vorgeblich nicht wissen darf.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 6, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0006_00007.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 6.

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