Goethes Briefe: GB 2, Nr. 102
An Ernst Theodor Langer

Frankfurt a. M. , 6. 〈März〉 1774. 〈Sonntag〉 → 〈Braunschweig〉


Ihr seyd nicht der einzige der sich übr meine lakonische Briefleins beklagt, und doch dünckt mich ​ 1 wäre ein krafftiger Text willkommner als eine angerührte Predigt, mir wenigstens ist's so.

die ​ 2 zweyte Ausgabe des Berlich. ist da ganz unverändert. Es ist mein Probstück, und soll bleiben wie's ist. Wenn ich ie wieder ein deutsch drama mache, daran ich sehr zweifle, mögen alsdenn wahre Seelen fühlen inwiefern ich zugenommen habe. Sonst binn ich sehr emsich, um nicht zu sagen fleisig, advozire scharf zu, und verfasse doch noch manch Stückgen Arbeit ​ 3 guten Geistes und Gefühls. Jezt ist nichts zum druck bereit. Vielleicht ​ 4 nächstens, da ich's denn melden will. Gebt auf ein Lustspiel acht das die Ostermesse herauskommen wird ​der Hof ​meister oder ​die Vortheile der ​Privat erziehung. Ihr hört am Titel dass es nicht von mir ist. Es wird euch ergözzen. /

hier leg ich ein Specktakul bey, sagt niemanden wo ihrs her habt. In mysterio voluptas. Ich vermuthe ihr habt die ​biblischen Fragen auch noch nicht gesehen. Wenn's euch interessirt kann ich euch manchmal so was schicken, in meinem Zirkel haben die Kerls immer drollige Einfälle. Wenn ihr Lessingen seht so sagt ihm dass ich auf ihn gerechnet hätte, ​ 5 und ich pflegte mich an meinen Leuten nicht zu betrügen. Grüsst behrisch von mir auch von Hornen. Ich weis der dürre Teufel wird sich gefreut haben so unerwartet etwas von ​ 6 seinem ehmaligen Jonathan zu sehen. Vielleicht kommt noch auf die Ostermesse was von mir, ich weil noch nicht ob es einen Verleger ​ 7 finden wird, es ist ein Bissgen toll, kommts heraus, so sollst du s erfahren.

Adieu und schreibt mir noch einmal eh ihr diese Welt verlasst.

Frfurt am 6 ​ 8 May 1774

Goethe

  1. w ​mich​ ↑
  2. de ​ie​ ↑
  3. a ​Arbeit​ ↑
  4. Vi ​ielleicht​ ↑
  5. hätte. ​, ​ ↑
  6. × ​von​ ↑
  7. × ​Verleger​ ↑
  8. 5 ​6 ​ ↑

Die Monatsangabe May ( 79,23 ) ist offenbar verschrieben für ‚März‘, da Goethe die noch bevorstehende Ostermesse ( 79,19 ) erwähnt, die 1774 in Frankfurt am Osterdienstag (5. April) und in Leipzig zu Jubilate (24. April) begann (vgl. Verzeichniß der fürnehmsten Messen und Jahrmärckte. In: Sachsen-Weimarischer Calender 〈…〉 gestellet von Johann Friedrich Schröder. Weimar 1764 f., o. S.).

Bis zum Abdruck des vorliegenden Briefes in WA IV 2 (1887) galt der Adressat als unsicher. Für die Zuschreibung an Langer sprechen vor allem inhaltliche Gründe. So deutet der Hinweis auf das Lustspiel „Der Hofmeister“ von Jakob Michael Reinhold Lenz, ebenso die Annahme, dieses würde den Adressaten ergözzen ( 79,10 ), auf Langer, der nach verschiedenen früheren Anstellungen auch im Frühjahr 1774 eine Hofmeisterstelle innehatte. Weiterhin verweisen die Erwähnungen von Lessing, Behrisch und Horn (vgl. 79,15 ; 79,17 ) auf ebendiesen Adressaten. Lessings Bekanntschaft hatte Langer 1773/74 in Braunschweig gemacht (vgl. zu 48,2–3 ). Mit Behrisch war er seit der Leipziger Zeit befreundet. Ebenso belegt ist seine Verbindung zu Horn, der sich während des Besuchs Langers in Frankfurt am 17. September 1769 in dessen Stammbuch eingetragen hatte (vgl. Zimmermann, 10 f. und 73 f.).

H: FDH/FGM Frankfurt a. M., Sign.: 4. – Doppelblatt 11,4 × 19,2 cm, 2 S. beschr., egh., Tinte. – Kuvert (Zuordnung unsicher, möglicherweise auch zu Nr 60 oder zu einem nicht überlieferten Brief gehörig): NLA Staatsarchiv Wolfenbüttel, Sign.: VI Hs 11, Nr 145, Bd 2, Nr 12; 10,3 × 9,2 cm, Adresse, Tinte: An Herrn / Herrn Legationsrath / Langer / in / ​Braunschweig / ​franck Cassel . – Faksimile: Facsimile von Handschriften berühmter Männer und Frauen aus der Sammlung des Herausgebers. Hrsg. von Wilhelm Dorow. Heft 2. Berlin 1836, Nr 17.

E: DjG​1 3 (1875), 15 f., Nr 12 (als Brief an Unbekannt; Datierung: 6. Mai 1774).

WA IV 2 (1887), 157 f., Nr 217 (nach Faksimile [1836] und E).

Vermutlich 1 Exemplar des „Prologs zu den neusten Offenbarungen Gottes verdeutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt“ (vgl. zu 79,11 ).

Der Brief antwortet auf einen nicht überlieferten Brief Langers (vgl. zu 78,13–14 ). – Ein Antwortbrief ist nicht bekannt.

Ihr seyd nicht der einzige 〈…〉 Briefleins beklagt] Mit Bezug auf einen nicht überlieferten Brief Langers geschrieben. Die seit Ende 1771 fast zum Erliegen gekommene Korrespondenz mit Langer war offenbar nach Goethes Brief vom 27. Oktober 1773 ( Nr 60 ) wieder aufgelebt. Allerdings sind aus der späteren Zeit außer dem vorliegenden Brief keine weiteren Briefe Goethes an Langer überliefert (vgl. EB 26 ). Auch Langers Briefe an Goethe sind nicht mehr vorhanden (vgl. GB 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 43 ). – Langer hielt sich im März 1774 mit seinem Zögling, dem russischen Grafen Czernitschew, noch immer in Braunschweig auf (vgl. zu 48,2–3 ).

angerührte] Anrühren: durch Verrühren, Vermischen (unterschiedlicher Zutaten) anrichten; hier im metaphorischen Sinne (vgl. GWb 1, 653).

die zweyte Ausgabe des Berlich.] Die zweite, rechtmäßige Auflage des „Götz von Berlichingen“ war Ende Januar 1774 in Frankfurt a. M. bei den Eichenbergischen Erben erschienen, noch immer ohne Nennung des Autors (vgl. zu 72,14 und Hagen, 102 f., Nr 49).

Wenn ich ie wieder ein deutsch drama 〈…〉 zweifle] Gemeint ist ein Historienstück, das einen Stoff aus der deutschen Geschichte behandelt. – Seine Zurückhaltung gegenüber diesem Genre brachte Goethe in dieser Zeit auch anderen Freunden gegenüber zum Ausdruck. So schrieb Boie am 30. April 1774 in einem Brief an Gerstenberg: „Göthe will keine deutsche Dramen mehr schreiben.“ (BG 1, 485.)

advozire] Advozieren: die Tätigkeit eines Advokaten ausüben (vgl. GWb 1, 275).

Vielleicht nächstens] Damit sind wahrscheinlich „Die Leiden des jungen Werthers“ gemeint, mit denen Goethe damals sehr intensiv beschäftigt war. Sie erschienen zur Herbstmesse 1774 im Druck, verlegt bei Weygand in Leipzig (vgl. auch zu 94,4–5 ).

dass es nicht von mir ist] „Der Hofmeister“ von Johann Michael Reinhold Lenz erschien ohne Angabe des Verfassers zur Ostermesse 1774 bei Weygand in Leipzig.

ein Specktakul] Vermutlich lag dem Brief ein Exemplar des nur sieben Seiten umfassenden „Prologs zu den neusten Offenbarungen Gottes verdeutscht durch Dr. Carl Friedrich Bahrdt“ (DjG​3 4, 340–342) bei, der ohne Angabe des Verfassers und mit dem fingierten Druckort „Giessen“ im Februar 1774 in Mercks Selbstverlag in Darmstadt erschienen war. Goethe hatte den Druck Mitte Februar von Merck selbst bei dessen Besuch in Frankfurt erhalten (vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Goethe und Johann Heinrich Merck. In: GJb N. F. 12 [1950], 203). Für die Annahme, dass der „Prolog“ übersandt wurde, sprechen die Person des Adressaten, bei dem Goethe Interesse an religiösen Themen voraussetzen konnte (vgl. GB 1 II, Erläuterungen zu Nr 43 ), wie auch der Kontext der Briefstelle, erkundigt sich Goethe doch unmittelbar im Anschluss nach Langers Kenntnis der ​biblischen Fragen ( 79,12 ). – Wenig wahrscheinlich ist, dass es sich bei der Beilage um Goethes Farce „Götter Helden und Wieland“ gehandelt haben könnte, wie Fischer-Lamberg vermutete (vgl. DjG​3 4, 327). Das Stück ist zwar ebenfalls Anfang 1774 erschienen, jedoch auf Lenz' Veranlassung. Es ist kaum anzunehmen, dass Goethe, der über die Veröffentlichung verärgert war, die Farce an Langer geschickt hat (vgl. auch zu 76,12 ).

In mysterio voluptas.] Lat.: Im Geheimnis liegt das Vergnügen. – Die Bemerkung ist möglicherweise ein Nachklang der Beschäftigung Goethes mit mystisch-hermetischen Schriften (vgl. GB 1 II, zu 202,12 ).

die ​biblischen Fragen] Goethes Schrift „Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen zum erstenmal gründlich beantwortet, von einem Landgeistlichen in Schwaben“ (DjG​3 3, 117–124) war etwa ein Jahr zuvor, im März 1773, erschienen, und zwar ebenfalls im Darmstädter Selbstverlag Mercks (vgl. Hagen, 101 f., Nr 45). Die erste Rezension dazu, die Langer möglicherweise kannte, war schon Mitte März 1773 im „Wandsbecker Bothen“ ( Nr 43 ) veröffentlicht worden.

in meinem Zirkel] Goethe verkehrte in dieser Zeit hauptsächlich mit Merck; wahrscheinlich bezieht er auch die ehemaligen Straßburger Freunde, vor allem Lenz und den seit 1773 in Bückeburg lebenden Herder, mit ein.

Wenn ihr Lessingen seht 〈…〉 an meinen Leuten nicht zu betrügen.] Wie die Eintragung in Langers Stammbuch vermuten lässt, hatten sich Lessing und Langer 1773/74 in Braunschweig kennen gelernt. Eine nähere Verbindung ergab sich aber erst vom Juli bis Oktober 1780 in Wolfenbüttel, wo Langer zeitweilig in Lessings Haus wohnte (vgl. Zimmermann, 26 und 31 f.). – Die Äußerung zeugt von Goethes gewachsenem Selbstbewusstsein nach dem literarischen Erfolg des „Götz von Berlichingen“. Lessing betrachtete vor allem den „Götz“ eher mit Skepsis, äußerte sich jedoch nicht öffentlich darüber. Mit Bezug auf Goethes Erstlingsdrama ist im Nachlass Lessings die folgende Anmerkung überliefert: „Er füllt Därme mit Sand und verkauft sie für Stricke. Wer? Etwa der Dichter, der den Lebenslauf eines Mannes in Dialogen bringt und das Ding für ein Drama ausschreit?“ (Zitiert nach: Blumenthal, 8.)

Grüsst behrisch] Langer hielt zu dem in Dessau lebenden Ernst Wolfgang Behrisch zeitlebens Kontakt (vgl. zu 48,29 ).

von Hornen] Goethes Jugendfreund Horn, der Langer und Behrisch während seiner Leipziger Studienzeit kennen gelernt hatte, war seit 1773 Gerichtsschreiber-Adjunkt in Frankfurt (vgl. zu 48,16 ).

der dürre Teufel] Im 7. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt Goethe Behrischs Äußeres: Dieser Freund war einer der wunderlichsten Käutze, die es auf der Welt geben kann. Er hieß ​Behrisch 〈…〉 . Schon sein Aeußeres war sonderbar genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Dreyßigen, eine sehr große Nase und überhaupt markirte Züge; eine Haartour, die man wohl eine Perücke hätte nennen können, trug er vom Morgen bis in die Nacht, kleidete sich sehr nett und ging niemals aus, als den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm. (AA DuW 1, 247 f.) – Behrisch war zur Zeit seiner Bekanntschaft mit Goethe in Leipzig erst 28 Jahre alt (vgl. BG 1 II, einleitende Erläuterung zu Nr 18).

von seinem ehmaligen Jonathan] Vgl. 1 Samuel 18,3–4: „Und Jonathan und David machten einen Bund mit einander: denn er hatte ihn lieb, wie sein eigen Herz. / Und Jonathan zog aus seinen Rok, den er anhatte, und gab ihn David; dazu seinen Mantel, sein Schwerd, seinen Bogen, und seinen Gürtel.“ (Luther-Bibel 1768 AT, 605.)

auf die Ostermesse was von mir] Vermutlich ist der Band „Neueröfnetes moralisch-politisches Puppenspiel“ gemeint, auf den auch die nachfolgende Charakterisierung zuzutreffen scheint. Er enthielt die Stücke „Des Künstlers Erdewallen“, „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“ und „Fastnachtsspiel 〈…〉 vom Pater Brey“, die schon 1773 entstanden waren. Der Band erschien aber erst zur Herbstmesse 1774. – Dass Goethe hier bereits die Veröffentlichung der „Leiden des jungen Werthers“ gemeint haben könnte, ist nicht sehr wahrscheinlich, hatte er doch mit der Arbeit am Roman erst etwa Mitte Februar 1774 begonnen; wie der Brief an Sophie La Roche von Ende Mai/Anfang Juni 1774 belegt, schloss er sie etwa Mitte Mai ab (vgl. 90,10 ).

weil] Versehentlich für ‚weiß‘.

ob es einen Verleger finden wird] Das „Neueröfnete moralisch-politische Puppenspiel“, dessen Erscheinen Goethe hier möglicherweise ankündigte, wurde vermutlich bei Weygand in Leipzig verlegt. Es erschien ohne Verfassernamen und nur mit den Angaben „Leipzig und Frankfurt 1774“ (vgl. Hagen, 109 f., Nr 77). Goethe schickte die Stücke an Klinger nach Gießen, um diesen mit einer Veröffentlichung finanziell zu unterstützen. Durch Ludwig Julius Friedrich Höpfner, bei dem Klinger wohnte, wurden die Stücke zunächst Friedrich Nicolai angeboten, der jedoch ablehnte (vgl. DjG​3 3, 452). Im Herbst 1774 erschien dann der erwähnte Druck (vgl. zu 83,6 ), dem im selben Jahr noch drei Nachdrucke folgten.

May] Der Monatsname ist offenbar verschrieben für ‚März‘ (vgl. Datierung).

1774] Während im Erst- und im WA-Druck (nach dem Faksimile von 1836) an der Eigenhändigkeit der Jahreszahl kein Zweifel geäußert wurde (vgl. Überlieferung), nahm Fischer-Lamberg an, das Jahr sei von fremder Hand ergänzt (vgl. DjG​3 4, 327, zu Nr 224). Der Handschriftenbefund legt dies nicht zwingend nahe, auch wenn zwischen Monat und Jahr ein Spatium steht und das Jahr in einer größeren Schrift geschrieben wurde. Schriftvergleiche mit anderen eigenhändigen Datierungen (z. B. in Nr 60 sowie in GB 1 I, Nr 86 ), die Ähnlichkeiten zur Jahresangabe im vorliegenden Brief aufweisen, sprechen gegen die Annahme Fischer-Lambergs.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 102 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR102_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 78–79, Nr 102 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 221–225, Nr 102 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

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