Goethes Briefe: GB 2, Nr. 9
An Johann Christian Kestner

〈Frankfurt a. M. , 5. Februar 1773. Freitag〉 → 〈Wetzlar〉


Nichts denn gute Nachrichten lieber Kestner. Eure Perrücken sind halsstarrige Köpfe, biss ihnen das Wasser übern Kopf geht. Nun denn zu visitirt, und predige denen Herren ihr guter Geist fleissig uber ​Pred. Sal. C. 7. v. 17. Da wird alles wohl seyn ​ 1 : Nun richtet ​ 2 euch ein Kestner. Zur Hochzeit komm ich nicht, aber nachher solls Leben angehn. Dass ​Kielmanseg so glücklich war ist mir von Herzen lieb, und allen die ihn kennen durch mich, glückwünscht ihm ​ 3 von meintwegen.

Mit eurem Brief erhielt ich von Mercken dass er kommt. heute Freytags früh ​ 4 wird er anlangen, und Leuschenring mit, und / über das alles SchlittschuhBahn herrlich, wo ich Die ​ 5 Sonne gestern herauf und hinab mit Kreistänzen geehret habe. ​ 6 Und noch andre Süjets der Freude die ich nicht sagen kann. Darüber lasst euch wohl seyn, dass ich fast so glücklich binn als Leute die sich lieben wie ihr, dass eben so viel Hoffnung in mir ist als in liebenden, dass ich so gar Zeit her einige Gedichte gefühlt und was mehr ist dergleichen. Es grüsst euch meine Schwester, es grüsen euch meine Mädgen es grüsen euch meine Götter. Namentlich der Schöne Paris hier zur rechten ​ 7 , die goldne / Venus dort und der Bote Merkurius, der Freude hat an den schnellen, und mir gestern unter ​ 8 die Füse band seine göttliche Solen die schönen, goldnen, die ihn tragen über das unfruchtbaare Meer und die unendliche Erde, mit dem Hauche des Windes. Und so seegnen euch die lieben Dinger im Himmel.

  1. se h ​yn​ ↑
  2. richte s ​t ​ ↑
  3. ihne ​m ​ ↑
  4. wir ​früh ​ ↑
  5. v ​Die​ ↑
  6. habe, ​. ​ ↑
  7. reüberschriebenes"〉× ​chten​ ↑
  8. S ​unter​ ↑

Die Datierung folgt der Tagesangabe heute Freytags früh ( 8,17–18 ) in Verbindung mit Kestners Empfangsvermerk (vgl. Datierung zu Nr 8 ).

H: GSA Weimar, Sign.: 29/264,I,2, Bl. 10–11. – Doppelblatt 13,7 × 17,5 (–17,7) cm, 2 ½ S. beschr., egh., Tinte; S. 1 oben rechts Empfangsvermerk, Tinte: „Acc. W. 6. Febr. 73.“

E: Goethe und Werther​1 (1854), 134 f., Nr 50.

WA IV 2 (1887), 62 f., Nr 125 (Textkorrektur in den „Berichtigungen“, vgl. WA IV 50 [1912], 206).

Der Brief beantwortet einen nicht überlieferten Brief Kestners etwa vom 3. Februar 1773 (vgl. 8,17 ). – Der Antwortbrief vermutlich vom 9. oder 10. Februar 1773 (vgl. zu 9,8 ) ist nicht überliefert.

gute Nachrichten] Goethe scheint sich hier auf verschiedene Mitteilungen Kestners in dessen nicht überliefertem Brief zu beziehen.

Eure Perrücken] Gemeint sind die Mitglieder der Visitationskommission am Wetzlarer Reichskammergericht.

Nun denn zu visitirt] Möglicherweise hatte Kestner in seinem Bezugsbrief über die Wiederaufnahme der Arbeit der Visitationskommission am 3. Februar 1773 berichtet.

​Pred. Sal. C. 7. v. 17.] Prediger Salomo 7,17: „Sei nicht alzu gerecht, und nicht alzu weise; daß du nicht verderbest.“ (Luther-Bibel 1768 AT, 1238.)

Hochzeit] Möglicherweise hatte Kestner Goethe brieflich eingeladen. Die Hochzeit Kestners mit Charlotte Buff fand am 4. April 1773 statt.

Dass ​Kielmanseg so glücklich war] Kielmannsegg hatte sich unter anderem auch deswegen für längere Zeit am Reichskammergericht in Wetzlar aufgehalten, um einen alten Familienprozess gegen die Holsteinische Akademie in Kiel voranzutreiben (vgl. auch GB 1 II, zu 237,26 ). Offenbar hatte Goethe durch Kestner nun die Nachricht erhalten, dass der Rechtsstreit durch einen Vergleich beigelegt worden war.

von meintwegen] Umgangssprachlich für ‚von mir‘, ‚an meiner Stelle‘. Die Wendung gebrauchte Goethe ausschließlich in seinen frühen Briefen bis 1773 (vgl. 27,9 ; GB 1 I, 8,7 ; 15,1–2 ).

eurem Brief] Nicht überliefert.

von Mercken] Der Brief Johann Heinrich Mercks ist nicht überliefert.

heute Freytags früh wird er anlangen] Vgl. 9,3 .

Leuschenring] Franz Michael Leuchsenring (Leysering), Hofrat und Erzieher des hessen-darmstädtischen Erbprinzen Ludwig. Goethe war ihm im März 1772 in Darmstadt zuerst begegnet; näher kennen lernte er ihn aber vermutlich erst bei Gelegenheit dieses Besuches.

Es grüsst euch 〈…〉 meine Götter.] Ironisches Zitat der Grußformel in den Episteln des Paulus (vgl. auch zu 6,24–27 ).

meine Schwester] Cornelia Goethe.

meine Mädgen] Es könnten die Schwestern Gerock, Münch und Crespel gemeint sein, die damals zum Freundeskreis Goethes und seiner Schwester gehörten (vgl. zu 7,6–7 ).

meine Götter] Gemeint sind die Gipsabgüsse der im Folgenden erwähnten Skulpturengruppe, das Urteil des Paris darstellend.

der Bote Merkurius 〈…〉 mit dem Hauche des Windes] In Anlehnung an Homers „Odyssee“ (5,43–46):

Jener sprachs; ihm gehorchte der thätige Arguswürger; Eilte sofort, und unter die füsse sich band er solen, Schön, ambrosisch und golden, womit er über die wasser Und das unendliche land hinschwebt, wie im hauche des windes.
(Johann Heinrich Voß: Homers Odyssee. Bd 1. Altona 1793, S. 103.) – Dieselbe Assoziation in Verbindung mit dem Schlittschuhlaufen findet sich auch am Schluss des 3. Buches von „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung“: Wie einer, der mühsam über den gefrornen hockrichten Boden eilt und unsicher auf seinen ledernen Sohlen das glatte Eis betritt, gar bald, wenn er die Schrittschuhe nur untergebunden hat, von ihnen hinweggeführet wird und mit leichtem Fluge das Ufer verläßt, seines vorigen Schrittes und Zustandes auf dem glatten Elemente vergißt und vor den ungeschickten herbeigelaufenen Neugierigen auf den Dämmen in ehrenvoller Schönheit dahinschwebet; oder wie Mercur, sobald er die goldnen Flügel umgebunden, über Meer und Erde sich leicht nach dem Willen der Götter bewegt, so schritt auch unser Held in seinen Halbstiefeln berauscht und sorgenlos über das Theater hin, als das letzte Presto der Symphonie ihn nöthigte, sich hinter die Coulissen zu verbergen. (WA I 51, 279.)

unter die Füse 〈…〉 Solen] Anspielung auf das oben erwähnte Schlittschuhlaufen.

die lieben Dinger im Himmel] Ganz ähnlich, aber mit deutlicherem Bezug auf ein göttliches Wesen, heißt es im Brief an Augusta zu Stolberg vom 15. April 1775: 〈…〉 das liebe Ding, das sie Gott heissen, oder wie's heisst, sorgt doch sehr für mich. ( 187,14–15 .) – Vgl. auch Goethes Reisetagebuch vom 30. Oktober 1775: 〈…〉 und was das übrige betrifft so fragt das liebe unsichtbaare Ding das mich leitet und schult 〈…〉. (GT I 1, 13.)

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
GB 2, Nr 9 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), in: https://goethe-biographica.de/id/GB02_BR009_0.

Entspricht Druck:
Text: GB 2 I, S. 8–9, Nr 9 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.
Kommentar: GB 2 II, S. 15–17, Nr 9 (Elke Richter / Georg Kurscheidt), Berlin 2009.

Zurück zum Seitenanfang