BuG: BuG I, A 142
Straßburg Mai 1770

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 244)

Straßburg Mai 1770

Jener gewaltige Hof- und Prachtstrom war nunmehr vorübergeronnen und hatte mir keine andere Sehnsucht zurückgelassen, als nach jenen Raphael’schen Teppichen, welche ich gern jeden Tag und Stunde betrachtet, verehrt, ja angebetet hätte. Glücklicherweise gelang es meinen leidenschaftlichen Bemühungen, mehrere Personen von Bedeutung dafür zu interessiren, so daß sie erst so spät als möglich abgenommen und eingepackt wurden. Wir überließen uns nunmehr wieder unserm stillen gemächlichen Universitäts- und Gesellschaftsgang, und bei dem letzten blieb Actuarius Salzmann, unser Tischpräsident, der allgemeine Pädagog. Sein Verstand, seine Nachgiebigkeit, seine Würde, die er bei allem Scherz und selbst manchmal bei kleinen Ausschweifungen, die er uns erlaubte, immer zu erhalten wußte, machten ihn der ganzen Gesellschaft lieb und werth, und ich wüßte nur wenige Fälle, wo er sein ernstliches Mißfallen bezeigt, oder mit Autorität zwischen kleine Händel und Streitigkeiten eingetreten wäre. Unter allen jedoch war ich derjenige, der sich am meisten an ihn anschloß, und er nicht weniger geneigt sich mit mir zu unterhalten, weil er mich mannichfaltiger gebildet fand als die Übrigen und nicht so einseitig im Urtheil. Auch richtete ich mich im Äußern nach ihm, damit er mich für seinen Gesellen und Genossen öffentlich ohne Verlegenheit erklären konnte ...

Salzmann hatte viel Bekanntschaften und überall Zutritt; eine große Annehmlichkeit für seinen Begleitenden, besonders im Sommer, weil man überall in Gärten nah und fern gute Aufnahme, gute Gesellschaft und Erfrischung fand, auch zugleich mehr als Eine Einladung zu diesem oder jenem frohen Tage erhielt. In einem solchen Falle traf ich Gelegenheit, mich einer Familie, die ich erst zum zweiten Male besuchte, sehr schnell zu empfehlen. Wir waren eingeladen und stellten uns zur bestimmten Zeit ein. Die Gesellschaft war nicht groß, einige spielten und einige spazierten wie gewöhnlich. Späterhin, als es zu Tische gehen sollte, sah ich die Wirthin und ihre Schwester lebhaft und wie in einer besondern Verlegenheit mit einander sprechen. Ich begegnete ihnen eben und sagte: Zwar habe ich kein Recht, meine Frauenzimmer, in Ihre Geheimnisse einzudringen; vielleicht bin ich aber im Stande einen guten Rath zu geben, oder wohl gar zu dienen. Sie eröffneten mir hierauf ihre peinliche Lage: daß sie nämlich zwölf Personen zu Tische gebeten, und in diesem Augenblicke sei ein Verwandter von der Reise zurückgekommen, der nun als der Dreizehnte, wo nicht sich selbst, doch gewiß einigen der Gäste ein fatales Memento mori werden würde. – Der Sache ist sehr leicht abzuhelfen, versetzte ich: Sie erlauben mir, daß ich mich entferne und mir die Entschädigung vorbehalte. Da es Personen von Ansehen und guter Lebensart waren, so wollten sie es keineswegs zugeben, sondern schickten in der Nachbarschaft umher, um den Vierzehnten aufzufinden. Ich ließ es geschehen, doch da ich den Bedienten unverrichteter Sache zur Gartenthür hereinkommen sah, entwischte ich, und brachte meinen Abend vergnügt unter den alten Linden der Wanzenau hin. Daß mir diese Entsagung reichlich vergolten worden, war wohl eine natürliche Folge.

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 248)

Straßburg Mai 1770

Eine gewisse allgemeine Geselligkeit läßt sich ohne das Kartenspiel nicht mehr denken. Salzmann erneuerte die guten Lehren der Madame Böhme, und ich war um so folgsamer, als ich wirklich eingesehen hatte, daß man sich durch diese kleine Aufopferung, wenn es ja eine sein sollte, manches Vergnügen, ja sogar eine größere Freiheit in der Societät verschaffen könne, als man sonst genießen würde. Das alte eingeschlafene Piquet wurde daher hervorgesucht; ich lernte Whist, richtete mir nach Anleitung meines Mentors einen Spielbeutel ein, welcher unter allen Umständen unantastbar sein sollte; und nun fand ich Gelegenheit, mit meinem Freunde die meisten Abende in den besten Cirkeln zuzubringen, wo man mir meistens wohl wollte, und manche kleine Unregelmäßigkeit verzieh, auf die mich jedoch der Freund, wiewohl milde genug, aufmerksam zu machen pflegte.

Dichtung und Wahrheit IX (WA I 27, 248)

Straßburg Mai 1770

Ich hatte zwar sehr schöne Haare, aber mein Straßburger Friseur versicherte mir sogleich, daß sie viel zu tief nach hinten hin verschnitten seien und daß es ihm unmöglich werde, daraus eine Frisur zu bilden, in welcher ich mich produciren dürfe, weil nur wenig kurze und gekraus’te Vorderhaare statuirt würden, alles übrige vom Scheitel an in den Zopf oder Haarbeutel gebunden werden müsse. Hierbei bleibe nun nichts übrig, als mir eine Haartour gefallen zu lassen, bis der natürliche Wachsthum sich wieder nach den Erfordernissen der Zeit hergestellt habe. Er versprach mir, daß niemand diesen unschuldigen Betrug, gegen den ich mich erst sehr ernstlich wehrte, jemals bemerken solle, wenn ich mich sogleich dazu entschließen könnte. Er hielt Wort und ich galt immer für den bestfrisirten und bestbehaarten jungen Mann ... War mir nun unter diesen Umständen eine heftige körperliche Bewegung versagt, so entfalteten sich unsere geselligen Gespräche immer lebhafter und leidenschaftlicher, ja sie waren die interessantesten, die ich bis dahin jemals geführt hatte.

Dichtung und Wahrheit X (WA I 27, 323)

Straßburg Mai 1770

Begeben wir uns in die freie Luft, auf den hohen und breiten Altan des Münsters, als wäre die Zeit noch da, wo wir junge Gesellen uns öfters dorthin auf den Abend beschieden, um mit gefüllten Römern die scheidende Sonne zu begrüßen. Hier verlor sich alles Gespräch in die Betrachtung der Gegend, alsdann wurde die Schärfe der Augen geprüft, und jeder bestrebte sich die entferntesten Gegenstände gewahr zu werden, ja deutlich zu unterscheiden. Gute Fernröhre wurden zu Hülfe genommen, und ein Freund nach dem andern bezeichnete genau die Stelle, die ihm die liebste und wertheste geworden; und schon fehlte es auch mir nicht an einem solchen Plätzchen, das, ob es gleich nicht bedeutend in der Landschaft hervortrat, mich doch mehr als alles andere mit einem lieblichen Zauber an sich zog. Bei solchen Gelegenheiten ward nun durch Erzählung die Einbildungskraft angeregt und manche kleine Reise verabredet, ja oft aus dem Stegreife unternommen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0142 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0142.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 132 f. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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