BuG: BuG I, A 29
Frankfurt 4. 4. 1764

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 331)

Frankfurt 4. 4. 1764

Den andern Morgen lag ich noch im Bette, als meine Mutter verstört und ängstlich hereintrat. Man konnte es ihr gar leicht ansehen, wenn sie sich irgend bedrängt fühlte. – Steh auf, sagte sie, und mache dich auf etwas Unangenehmes gefaßt. Es ist herausgekommen, daß du sehr schlechte Gesellschaft besuchst und dich in die gefährlichsten und schlimmsten Händel verwickelt hast. Der Vater ist außer sich, und wir haben nur so viel von ihm erlangt, daß er die Sache durch einen Dritten untersuchen will. Bleib’ auf deinem Zimmer und erwarte was bevorsteht. Der Rath Schneider wird zu dir kommen; er hat sowohl vom Vater als von der Obrigkeit den Auftrag: denn die Sache ist schon anhängig und kann eine sehr böse Wendung nehmen.

Ich sah wohl, daß man die Sache viel schlimmer nahm als sie war; doch fühlte ich mich nicht wenig beunruhigt, wenn auch nur das eigentliche Verhältniß entdeckt werden sollte. Der alte messianische Freund trat endlich herein, die Thränen standen ihm in den Augen; er faßte mich bei’m Arm und sagte: „Es thut mir herzlich leid, daß ich in solcher Angelegenheit zu Ihnen komme. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie sich so weit verirren könnten. Aber was thut nicht schlechte Gesellschaft und böses Beispiel; und so kann ein junger unerfahrner Mensch Schritt vor Schritt bis zum Verbrechen geführt werden.“ – Ich bin mir keines Verbrechens bewußt, versetzte ich darauf, so wenig als schlechte Gesellschaft besucht zu haben. – „Es ist jetzt nicht von einer Vertheidigung die Rede, fiel er mir in’s Wort, sondern von einer Untersuchung, und Ihrerseits von einem aufrichtigen Bekenntniß.“ – Was verlangen Sie zu wissen? sagte ich dagegen. Er setzte sich und zog ein Blatt hervor und fing zu fragen an: „Haben Sie nicht den N. N. Ihrem Großvater als einen Clienten zu einer *** Stelle empfohlen?“ Ich antwortete: ja. – „Wo haben Sie ihn kennen gelernt?“ – Auf Spaziergängen. – „In welcher Gesellschaft?“ – Ich stutzte: denn ich wollte nicht gern meine Freunde verrathen. – „Das Verschweigen wird nichts helfen, fuhr er fort: denn es ist alles schon genugsam bekannt.“ – Was ist denn bekannt? sagte ich. – „Daß Ihnen dieser Mensch durch andere Seinesgleichen ist vorgeführt worden und zwar durch ***.“ Hier nannte er die Namen von drei Personen, die ich niemals gesehen noch gekannt hatte; welches ich dem Fragenden denn auch sogleich erklärte. – „Sie wollen, fuhr jener fort, diese Menschen nicht kennen, und haben doch mit ihnen öftere Zusammenkünfte gehabt!“ – Auch nicht die geringste, versetzte ich: denn wie gesagt, außer dem ersten, kenne ich keinen und habe auch den niemals in einem Hause gesehen. – „Sind Sie nicht oft in der *** Straße gewesen?“ – Niemals, versetzte ich. Dieß war nicht ganz der Wahrheit gemäß. Ich hatte Pylades einmal zu seiner Geliebten begleitet, die in der Straße wohnte; wir waren aber zur Hinterthür hereingegangen und im Gartenhause geblieben. Daher glaubte ich mir die Ausflucht erlauben zu können, in der Straße selbst nicht gewesen zu sein.

Der gute Mann that noch mehr Fragen, die ich alle verneinen konnte: denn es war mir von alle dem, was er zu wissen verlangte, nichts bekannt. Endlich schien er verdrießlich zu werden und sagte: „Sie belohnen mein Vertrauen und meinen guten Willen sehr schlecht; ich komme, um Sie zu retten. Sie können nicht läugnen, daß Sie für diese Leute selbst oder für ihre Mitschuldigen Briefe verfaßt, Aufsätze gemacht und so zu ihren schlechten Streichen behülflich gewesen. Ich komme, um Sie zu retten: denn es ist von nichts Geringerem als nachgemachten Handschriften, falschen Testamenten, untergeschobenen Schuldscheinen und ähnlichen Dingen die Rede. Ich komme nicht allein als Hausfreund; ich komme im Namen und auf Befehl der Obrigkeit, die in Betracht Ihrer Familie und Ihrer Jugend, Sie und einige andere Jünglinge verschonen will, die gleich Ihnen in’s Netz gelockt worden.“ – Es war mir auffallend, daß unter den Personen die er nannte, sich gerade die nicht fanden, mit denen ich Umgang gepflogen. Die Verhältnisse trafen nicht zusammen, aber sie berührten sich, und ich konnte noch immer hoffen, meine jungen Freunde zu schonen. Allein der wackre Mann ward immer dringender. Ich konnte nicht läugnen, daß ich manche Nächte spät nach Hause gekommen war, daß ich mir einen Hausschlüssel zu verschaffen gewußt, daß ich mit Personen von geringem Stand und verdächtigem Aussehen an Lustorten mehr als einmal bemerkt worden, daß Mädchen mit in die Sache verwickelt seien; genug, alles schien entdeckt bis auf die Namen. Dieß gab mir Muth, standhaft im Schweigen zu sein. – „Lassen Sie mich, sagte der brave Freund, nicht von Ihnen weggehen. Die Sache leidet keinen Aufschub; unmittelbar nach mir wird ein andrer kommen, der Ihnen nicht so viel Spielraum läßt. Verschlimmern Sie die ohnehin böse Sache nicht durch Ihre Hartnäckigkeit.“

Nun stellte ich mir die guten Vettern, und Gretchen besonders, recht lebhaft vor; ich sah sie gefangen, verhört, bestraft, geschmäht, und mir fuhr wie ein Blitz durch die Seele, daß die Vettern denn doch, ob sie gleich gegen mich alle Rechtlichkeit beobachtet, sich in so böse Händel konnten eingelassen haben, wenigstens der älteste, der mir niemals recht gefallen wollte, der immer später nach Hause kam und wenig Heiteres zu erzählen wußte. Noch immer hielt ich mein Bekenntniß zurück. – Ich bin mir, sagte ich, persönlich nichts Böses bewußt, und kann von der Seite ganz ruhig sein; aber es wäre nicht unmöglich, daß diejenigen mit denen ich umgegangen bin, sich einer verwegnen oder gesetzwidrigen Handlung schuldig gemacht hätten. Man mag sie suchen, man mag sie finden, sie überführen und bestrafen, ich habe mir bisher nichts vorzuwerfen, und will auch gegen die nichts verschulden, die sich freundlich und gut gegen mich benommen haben. – Er ließ mich nicht ausreden, sondern rief mit einiger Bewegung: „Ja man wird sie finden. In drei Häusern kamen diese Bösewichter zusammen. (Er nannte die Straßen, er bezeichnete die Häuser, und zum Unglück befand sich auch das darunter, wohin ich zu gehen pflegte.) Das erste Nest ist schon ausgehoben, fuhr er fort, und in diesem Augenblick werden es die beiden andern. In wenig Stunden wird alles im klaren sein. Entziehen Sie sich, durch ein redliches Bekenntniß, einer gerichtlichen Untersuchung, einer Confrontation und wie die garstigen Dinge alle heißen.“ – Das Haus war genannt und bezeichnet. Nun hielt ich alles Schweigen für unnütz; ja, bei der Unschuld der Zusammenkünfte, konnte ich hoffen, jenen noch mehr als mir nützlich zu sein. – Setzen Sie sich, rief ich aus, und holte ihn von der Thür zurück: ich will Ihnen alles erzählen und zugleich mir und Ihnen das Herz erleichtern: nur das eine bitte ich, von nun an keine Zweifel in meine Wahrhaftigkeit.

Ich erzählte nun dem Freunde den ganzen Hergang der Sache, anfangs ruhig und gefaßt; doch je mehr ich mir die Personen, Gegenstände, Begebenheiten in’s Gedächtniß rief und vergegenwärtigte, und so manche unschuldige Freude, so manchen heitern Genuß gleichsam vor einem Criminalgericht deponiren sollte, destomehr wuchs die schmerzlichste Empfindung, so daß ich zuletzt in Thränen ausbrach und mich einer unbändigen Leidenschaft überließ. Der Hausfreund, welcher hoffte, daß eben jetzt das rechte Geheimniß auf dem Wege sein möchte sich zu offenbaren (denn er hielt meinen Schmerz für ein Symptom, daß ich im Begriff stehe mit Widerwillen ein Ungeheures zu bekennen) suchte mich, da ihm an der Entdeckung alles gelegen war, auf’s beste zu beruhigen; welches ihm zwar nur zum Theil gelang, aber doch in so fern, daß ich meine Geschichte nothdürftig auserzählen konnte. Er war, obgleich zufrieden über die Unschuld der Vorgänge, doch noch einigermaßen zweifelhaft, und erließ neue Fragen an mich, die mich abermals aufregten und in Schmerz und Wuth versetzen. Ich versicherte endlich, daß ich nichts weiter zu sagen habe, und wohl wisse, daß ich nichts zu fürchten brauche: denn ich sei unschuldig, von gutem Hause und wohl empfohlen; aber jene könnten eben so unschuldig sein, ohne daß man sie dafür anerkenne oder sonst begünstige. Ich erklärte zugleich, daß wenn man jene nicht wie mich schonen, ihren Thorheiten nachsehen, und ihre Fehler verzeihen wolle, wenn ihnen nur im mindesten hart und unrecht geschehe, so würde ich mir ein Leids anthun, und daran solle mich niemand hindern. Auch hierüber suchte mich der Freund zu beruhigen; aber ich traute ihm nicht, und war, als es mich zuletzt verließ, in der entsetzlichsten Lage. Ich machte mir nun doch Vorwürfe, die Sache erzählt und alle die Verhältnisse an’s Licht gebracht zu haben. Ich sah voraus, daß man die kindlichen Handlungen, die jugendlichen Neigungen und Vertraulichkeiten ganz anders auslegen würde, und daß ich vielleicht den guten Pylades mit in diesen Handel verwickeln und sehr unglücklich machen könnte. Alle diese Vorstellungen drängten sich lebhaft hintereinander vor meiner Seele, schärften und spornten meinen Schmerz, so daß ich mir vor Jammer nicht zu helfen wußte, mich die Länge lang auf die Erde warf, und den Fußboden mit meinen Thränen benetzte.

Ich weiß nicht, wie lange ich mochte gelegen haben, als meine Schwester hereintrat, über meine Gebärde erschrack und alles Mögliche that mich aufzurichten. Sie erzählte mir, daß eine Magistratsperson unten bei’m Vater die Rückkunft des Hausfreundes erwartet, und nachdem sie sich eine Zeit lang eingeschlossen gehalten, seien die beiden Herren weggegangen, und hätten untereinander sehr zufrieden, ja mit Lachen geredet, und sie glaube die Worte verstanden zu haben: es ist recht gut, die Sache hat nichts zu bedeuten. – „Freilich, fuhr ich auf, hat die Sache nichts zu bedeuten, für mich, für uns: denn ich habe nichts verbrochen, und wenn ich es hätte, so würde man mir durchzuhelfen wissen; aber jene, jene, rief ich aus, wer wird ihnen beistehn!“ – Meine Schwester suchte mich umständlich mit dem Argumente zu trösten, daß wenn man die Vornehmeren retten wolle, man auch über die Fehler der Geringem einen Schleier werfen müsse. Das alles half nichts. Sie war kaum weggegangen, als ich mich wieder meinem Schmerz überließ, und sowohl die Bilder meiner Neigung und Leidenschaft als auch des gegenwärtigen und möglichen Unglücks immer wechselsweise hervorrief. Ich erzählte mir Mährchen auf Mährchen, sah nur Unglück auf Unglück, und ließ es besonders daran nicht fehlen, Gretchen und mich recht elend zu machen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0029 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0029.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 48 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

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