BuG: BuG I, A 23
Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 261)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Mein früheres gutes Verhältniß zu jenem Knaben den ich oben Pylades genannt, hatte sich bis in’s Jünglingsalter fortgesetzt. Zwar sahen wir uns seltner, weil unsre Eltern nicht zum besten mit einander standen; wo wir uns aber trafen, sprang immer sogleich der alte freundschaftliche Jubel hervor. Einst begegneten wir uns in den Alleen, die zwischen dem innern und äußern Sanct-Gallen Thor einen sehr angenehmen Spaziergang darboten. Wir hatten uns kaum begrüßt, als er zu mir sagte: „Es geht mir mit deinen Versen noch immer wie sonst. Diejenigen die du mir neulich mittheiltest, habe ich einigen lustigen Gesellen vorgelesen, und keiner will glauben, daß du sie gemacht habest.“ – Laß es gut sein, versetzte ich; wir wollen sie machen, uns daran ergötzen, und die andern mögen davon denken und sagen was sie wollen.

„Da kommt eben der Ungläubige!“ sagte mein Freund. – Wir wollen nicht davon reden, war meine Antwort. Was hilft’s, man bekehrt sie doch nicht. – „Mit nichten, sagte der Freund; ich kann es ihm nicht so hingehen lassen.“

Nach einer kurzen gleichgültigen Unterhaltung konnte es der für mich nur allzuwohlgesinnte junge Gesell nicht lassen, und sagte mit einiger Empfindlichkeit gegen jenen: „Hier ist nun der Freund, der die hübschen Verse gemacht hat, und die ihr ihm nicht zutrauen wollt.“ – Er wird es gewiß nicht übel nehmen, versetzte jener: denn es ist ja eine Ehre die wir ihm erweisen, wenn wir glauben, daß weit mehr Gelehrsamkeit dazu gehöre, solche Verse zu machen, als er bei seiner Jugend besitzen kann. – Ich erwiderte etwas Gleichgültiges; mein Freund aber fuhr fort: „Es wird nicht viel Mühe kosten, euch zu überzeugen. Gebt ihm irgend ein Thema auf, und er macht euch ein Gedicht aus dem Stegreif.“ – Ich ließ es mir gefallen, wir wurden einig, und der dritte fragte mich: ob ich mich wohl getraue, einen recht artigen Liebesbrief in Versen aufzusetzen, den ein verschämtes junges Mädchen an einen Jüngling schriebe, um ihre Neigung zu offenbaren. – Nichts ist leichter als das, versetzte ich, wenn wir nur ein Schreibzeug hätten. – Jener brachte seinen Taschenkalender hervor, worin sich weiße Blätter in Menge befanden, und ich setzte mich auf eine Bank, zu schreiben. Sie gingen indeß auf und ab und ließen mich nicht aus den Augen. Sogleich faßte ich die Situation in den Sinn und dachte mir, wie artig es sein müßte wenn irgend ein hübsches Kind mir wirklich gewogen wäre und es mir in Prosa oder in Versen entdecken wollte. Ich begann daher ohne Anstand meine Erklärung, und führte sie in einem, zwischen dem Knittelvers und Madrigal schwebenden Sylbenmaße mit möglichster Naivetät in kurzer Zeit dergestalt aus, daß, als ich dieß Gedichtchen den beiden vorlas, der Zweifler in Verwunderung und mein Freund in Entzücken versetzt wurde. Jenem konnte ich auf sein Verlangen das Gedicht um so weniger verweigern, als es in seinen Kalender geschrieben war, und ich das Document meiner Fähigkeiten gern in seinen Händen sah. Er schied unter vielen Versicherungen von Bewunderung und Neigung, und wünschte nichts mehr als uns öfters zu begegnen, und wir machten aus, bald zusammen auf’s Land zu gehen.

Unsre Partie kam zu Stande, zu der sich noch mehrere junge Leute von jenem Schlage gesellten ... Indem sie nun unterwegs meine Liebesepistel auf das beste herausstrichen, gestanden sie mir, daß sie einen sehr lustigen Gebrauch davon gemacht hätten: sie sei nämlich mit verstellter Hand abgeschrieben, und mit einigen nähern Beziehungen einem eingebildeten jungen Manne zugeschoben worden, der nun in der festen Überzeugung stehe, ein Frauenzimmer, dem er von fern den Hof gemacht, sei in ihn auf’s äußerste verliebt, und suche Gelegenheit ihm näher bekannt zu werden. Sie vertrauten mir dabei, er wünsche nichts mehr als ihr auch in Versen antworten zu können; aber weder bei ihm noch bei ihnen finde sich Geschick dazu, weßhalb sie mich inständig bäten, die gewünschte Antwort selbst zu verfassen ... Ich willigte ein; sie theilten mir manches Besondere mit, was der Brief enthalten sollte, und wir brachten ihn schon fertig mit nach Hause.

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 265)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Kurze Zeit darauf wurde ich durch meinen Freund dringend eingeladen, an einem Abendfeste jener Gesellschaft Theil zu nehmen. Der Liebhaber wolle es dießmal ausstatten, und verlange dabei ausdrücklich, dem Freunde zu danken, der sich so vortrefflich als poetischer Secretär erwiesen.

Wir kamen spät genug zusammen, die Mahlzeit war die frugalste, der Wein trinkbar; und was die Unterhaltung betraf, so drehte sie sich fast gänzlich um die Verhöhnung des gegenwärtigen, freilich nicht sehr aufgeweckten Menschen, der nach wiederholter Lesung des Briefes nicht weit davon war zu glauben, er habe ihn selbst geschrieben.

Meine natürliche Gutmüthigkeit ließ mich an einer solchen boshaften Verstellung wenig Freude finden, und die Wiederholung desselben Themas ekelte mich bald an. Gewiß, ich brachte einen verdrießlichen Abend hin, wenn nicht eine unerwartete Erscheinung mich wieder belebt hätte. Bei unserer Ankunft stand bereits der Tisch reinlich und ordentlich gedeckt, hinreichender Wein aufgestellt; wir setzten uns und blieben allein, ohne Bedienung nöthig zu haben. Als es aber doch zuletzt an Wein gebrach, rief einer nach der Magd; allein statt derselben trat ein Mädchen herein, von ungemeiner, und wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von unglaublicher Schönheit. – „Was verlangt ihr? sagte sie, nachdem sie auf eine freundliche Weise guten Abend geboten: die Magd ist krank und zu Bette. Kann ich euch dienen?“ – Es fehlt an Wein, sagte der eine. Wenn du uns ein paar Flaschen holtest, so wäre es sehr hübsch. – Thu’ es, Gretchen, sagte der andere; es ist ja nur ein Katzensprung. – „Warum nicht!“ versetzte sie, nahm ein paar leere Flaschen vom Tisch und eilte fort. Ihre Gestalt war von der Rückseite fast noch zierlicher. Das Häubchen saß so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein schlanker Hals gar anmuthig mit Nacken und Schultern verband. Alles an ihr schien auserlesen, und man konnte der ganzen Gestalt um so ruhiger folgen, als die Aufmerksamkeit nicht mehr durch die stillen treuen Augen und den lieblichen Mund allein angezogen und gefesselt wurde. Ich machte den Gesellen Vorwürfe, daß sie das Kind in der Nacht allein ausschickten; sie lachten mich aus, und ich war bald getröstet, als sie schon wiederkam: denn der Schenkwirth wohnte nur über die Straße. – Setze dich dafür auch zu uns, sagte der eine. Sie that es, aber leider kam sie nicht neben mich. Sie trank ein Glas auf unsre Gesundheit und entfernte sich bald, indem sie uns rieth, nicht gar lange beisammen zu bleiben und überhaupt nicht so laut zu werden: denn die Mutter wolle sich eben zu Bette legen. Es war nicht ihre Mutter, sondern die unserer Wirthe.

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 267)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Man hatte jenen Liebenden, dessen poetischer Secretär ich geworden war, glauben gemacht, der in seinem Namen geschriebene Brief sei wirklich an das Frauenzimmer abgegeben worden, und zugleich seine Erwartung auf’s äußerste gespannt, daß nun bald eine Antwort darauf erfolgen müsse. Auch diese sollte ich schreiben, und die schalkische Gesellschaft ließ mich durch Pylades auf’s inständigste ersuchen, allen meinen Witz aufzubieten und alle meine Kunst zu verwenden, daß dieses Stück recht zierlich und vollkommen werde.

In Hoffnung meine Schöne wiederzusehen, machte ich mich sogleich an’s Werk ... Als ich abermals gemahnt wurde, war ich fertig, versprach zu kommen und fehlte nicht zur bestimmten Stunde. Es war nur einer von den jungen Leuten zu Hause; Gretchen saß am Fenster und spann; die Mutter ging ab und zu. Der junge Mensch verlangte, daß ich’s ihm vorlesen sollte; ich that es, und las nicht ohne Rührung, indem ich über das Blatt weg nach dem schönen Kinde hinschielte, und da ich eine gewisse Unruhe ihres Wesens, eine leichte Röthe ihrer Wangen zu bemerken glaubte, drückte ich nur besser und lebhafter aus, was ich von ihr zu vernehmen wünschte. Der Vetter, der mich oft durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, ersuchte mich zuletzt um einige Abänderungen. Sie betrafen einige Stellen, die freilich mehr auf Gretchens Zustand, als auf den jenes Frauenzimmers paßten, das von gutem Hause, wohlhabend, in der Stadt bekannt und angesehen war. Nachdem der junge Mann mir die gewünschten Änderungen articulirt und ein Schreibzeug herbeigeholt hatte, sich aber wegen eines Geschäfts auf kurze Zeit beurlaubte, blieb ich auf der Wandbank hinter dem großen Tische sitzen, und probirte die zu machenden Veränderungen auf der großen, fast den ganzen Tisch einnehmenden Schieferplatte, mit einem Griffel, der stets im Fenster lag, weil man auf dieser Steinfläche oft rechnete, sich mancherlei notirte, ja die Gehenden und Kommenden sich sogar Notizen dadurch mittheilten.

Ich hatte eine Zeit lang verschiedenes geschrieben und wieder ausgelöscht, als ich ungeduldig ausrief: es will nicht gehen! – „Desto besser! sagte das liebe Mädchen, mit einem gesetzten Tone; ich wünschte, es ginge gar nicht. Sie sollten sich mit solchen Händeln nicht befassen.“ – Sie stand vom Spinnrocken auf, und zu mir an den Tisch tretend, hielt sie mir mit viel Verstand und Freundlichkeit eine Strafpredigt. „Die Sache scheint ein unschuldiger Scherz; es ist ein Scherz, aber nicht unschuldig. Ich habe schon mehrere Fälle erlebt, wo unsere jungen Leute wegen eines solchen Frevels in große Verlegenheit kamen.“ – Was soll ich aber thun? versetzte ich: der Brief ist geschrieben, und sie verlassen sich drauf, daß ich ihn umändern werde. – „Glauben Sie mir, versetzte sie, und ändern ihn nicht um; ja, nehmen Sie ihn zurück, stecken Sie ihn ein, gehen Sie fort und suchen die Sache durch Ihren Freund in’s Gleiche zu bringen. Ich will auch ein Wörtchen mit drein reden: denn, sehen Sie, so ein armes Mädchen als ich bin, und abhängig von diesen Verwandten, die zwar nichts Böses thun, aber doch oft um der Lust und des Gewinns willen, manches Wagehalsige vornehmen, ich habe widerstanden und den ersten Brief nicht abgeschrieben, wie man von mir verlangte; sie haben ihn mit verstellter Hand copirt, und so mögen sie auch, wenn es nicht anders ist, mit diesem thun. Und Sie, ein junger Mann aus gutem Hause, wohlhabend, unabhängig, warum wollen Sie sich zum Werkzeug in einer Sache gebrauchen lassen, aus der gewiß nichts Gutes und vielleicht manches Unangenehme für Sie entspringen kann?“ – Ich war glücklich sie in einer Folge reden zu hören: denn sonst gab sie nur wenige Worte in das Gespräch. Meine Neigung wuchs unglaublich, ich war nicht Herr von mir selbst, und erwiderte: Ich bin so unabhängig nicht als Sie glauben, und was hilft mir wohlhabend zu sein, da mir das Köstlichste fehlt, was ich wünschen dürfte.

Sie hatte mein Concept der poetischen Epistel vor sich hingezogen und las es halb laut, gar hold und anmuthig. „Das ist recht hübsch, sagte sie, indem sie, bei einer Art naiver Pointe, inne hielt: nur Schade, daß es nicht zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch bestimmt ist.“ – Das wäre freilich sehr wünschenswerth, rief ich aus: wie glücklich müßte der sein, der von einem Mädchen, das er unendlich liebt, eine solche Versicherung ihrer Neigung erhielte! – „Es gehört freilich viel dazu, versetzte sie, und doch wird manches möglich.“ – Zum Beispiel, fuhr ich fort, wenn jemand der Sie kennt, schätzt, verehrt und anbetet, Ihnen ein solches Blatt vorlegte, und Sie recht dringend, recht herzlich und freundlich bäte, was würden Sie thun? – Ich schob ihr das Blatt näher hin, das sie schon wieder mir zugeschoben hatte. Sie lächelte, besann sich einen Augenblick, nahm die Feder und unterschrieb. Ich kannte mich nicht vor Entzücken, sprang auf und wollte sie umarmen. – „Nicht küssen! sagte sie: das ist so was Gemeines; aber lieben wenn’s möglich ist.“ Ich hatte das Blatt zu mir genommen und eingesteckt. Niemand soll es erhalten, sagte ich, und die Sache ist abgethan! Sie haben mich gerettet. – „Nun vollenden Sie die Rettung, rief sie aus: und eilen fort, ehe die andern kommen, und Sie in Pein und Verlegenheit gerathen.“ Ich konnte mich nicht von ihr losreißen; sie aber bat mich so freundlich, indem sie mit beiden Händen meine Rechte nahm und liebevoll drückte. Die Thränen waren mir nicht weit: ich glaubte ihre Augen feucht zu sehen; ich drückte mein Gesicht auf ihre Hände und eilte fort. In meinem Leben hatte ich mich nicht in einer solchen Verwirrung befunden.

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 272)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Je mehr sich ... mein Entzücken steigerte, desto weher that es mir, sie nicht unmittelbar besuchen, sie nicht wieder sehen und sprechen zu können: denn ich fürchtete die Vorwürfe der Vettern und ihre Zudringlichkeit. Den guten Pylades, der die Sache vermitteln konnte, wußte ich nicht anzutreffen. Ich machte mich daher den nächsten Sonntag auf nach Niederrad, wohin jene Gesellen gewöhnlich zu gehen pflegten, und fand sie auch wirklich. Sehr verwundert war ich jedoch, da sie mir, anstatt verdrießlich und fremd zu thun, mit frohem Gesicht entgegen kamen. Der Jüngste besonders war sehr freundlich, nahm mich bei der Hand und sagte: „Ihr habt uns neulich einen schelmischen Streich gespielt, und wir waren auf euch recht böse; doch hat uns euer Entweichen und das Entwenden der poetischen Epistel auf einen guten Gedanken gebracht, der uns vielleicht sonst niemals aufgegangen wäre. Zur Versöhnung möget ihr uns heute bewirthen, und dabei sollt ihr erfahren, was es denn ist, worauf wir uns etwas einbilden, und was euch gewiß auch Freude machen wird.“ Diese Anrede setzte mich in nicht geringe Verlegenheit: denn ich hatte ungefähr so viel Geld bei mir, um mir selbst und einem Freunde etwas zu Gute zu thun; aber eine Gesellschaft, und besonders eine solche, die nicht immer zur rechten Zeit ihre Gränzen fand, zu gastiren, war ich keineswegs eingerichtet; ja dieser Antrag verwunderte mich um so mehr, als sie sonst durchaus sehr ehrenvoll darauf hielten, daß jeder nur seine Zeche bezahlte. Sie lächelten über meine Verlegenheit, und der Jüngere fuhr fort: „Laßt uns erst in der Laube sitzen und dann sollt ihr das Weitre erfahren.“ Wir saßen, und er sagte: „Als ihr die Liebesepistel neulich mitgenommen hattet, sprachen wir die ganze Sache noch einmal durch und machten die Betrachtung, daß wir so ganz umsonst, andern zum Verdruß und uns zur Gefahr, aus bloßer leidiger Schadenfreude, euer Talent mißbrauchen, da wir es doch zu unser aller Vortheil benutzen könnten. Seht, ich habe hier eine Bestellung auf ein Hochzeitsgedicht, so wie auf ein Leichencarmen. Das zweite muß gleich fertig sein, das erste hat noch acht Tage Zeit. Mögt ihr sie machen, welches euch ein Leichtes ist, so tractirt ihr uns zweimal, und wir bleiben auf lange Zeit eure Schuldner.“ – Dieser Vorschlag gefiel mir von allen Seiten: denn ich hatte schon von Jugend auf die Gelegenheitsgedichte, deren damals in jeder Woche mehrere circulirten, ja besonders bei ansehnlichen Verheirathungen dutzendweise zum Vorschein kamen, mit einem gewissen Neid betrachtet, weil ich solche Dinge eben so gut, ja noch besser zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit angeboten, mich zu zeigen, und besonders mich gedruckt zu sehen. Ich erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Personalien, mit den Verhältnissen der Familie bekannt; ich ging etwas abseits, machte meinen Entwurf und führte einige Strophen aus. Da ich mich jedoch wieder zur Gesellschaft begab, und der Wein nicht geschont wurde, so fing das Gedicht an zu stocken, und ich konnte es diesen Abend nicht abliefern. „Es hat noch bis morgen Abend Zeit, sagten sie, und wir wollen euch nur gestehen, das Honorar, welches wir für das Leichencarmen erhalten, reicht hin, uns morgen noch einen lustigen Abend zu verschaffen. Kommt zu uns: denn es ist billig, daß Gretchen auch mit genieße, die uns eigentlich auf diesen Einfall gebracht hat.“Meine Freude war unsäglich. Auf dem Heimwege hatte ich nur die noch fehlenden Strophen im Sinne, schrieb das Ganze noch vor Schlafengehn nieder und den andern Morgen sehr sauber in’s Reine.

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 275)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Der Tag ward mir unendlich lang, und kaum war es dunkel geworden, so fand ich mich wieder in der kleinen engen Wohnung neben dem allerliebsten Mädchen.

Die jungen Leute, mit denen ich auf diese Weise immer in nähere Verbindung kam, waren nicht eigentlich gemeine, aber doch gewöhnliche Menschen. Ihre Thätigkeit war lobenswürdig, und ich hörte ihnen mit Vergnügen zu, wenn sie von den vielfachen Mitteln und Wegen sprachen, wie man sich etwas erwerben könne; auch erzählten sie am liebsten von gegenwärtig sehr reichen Leuten, die mit nichts angefangen. Andere hätten als arme Handlungsdiener sich ihren Patronen nothwendig gemacht, und wären endlich zu ihren Schwiegersöhnen erhoben worden; noch andere hätten einen kleinen Kram mit Schwefelfaden und dergleichen so erweitert und veredelt, daß sie nun als reiche Kauf- und Handelsmänner erschienen. Besonders sollte jungen Leuten, die gut auf den Beinen wären, das Beiläufer- und Mäklerhandwerk und die Übernahme von allerlei Aufträgen und Besorgungen für unbehülfliche Wohlhabende durchaus ernährend und einträglich sein. Wir alle hörten das gern, und jeder dünkte sich etwas, wenn er sich in dem Augenblick vorstellte, daß in ihm selbst so viel vorhanden sei, nicht nur um in der Welt fortzukommen, sondern sogar ein außerordentliches Glück zu machen. Niemand jedoch schien dieß Gespräch ernstlicher zu führen, als Pylades, der zuletzt gestand, daß er ein Mädchen außerordentlich liebe und sich wirklich mit ihr versprochen habe. Die Vermögensumstände seiner Eltern litten es nicht, daß er auf Akademien gehe; er habe sich aber einer sehr schönen Handschrift, des Rechnens und der neuern Sprachen befleißigt, und wolle nun, in Hoffnung auf jenes häusliche Glück, sein Möglichstes versuchen. Die Vettern lobten ihn deßhalb, ob sie gleich das frühzeitige Versprechen an ein Mädchen nicht billigen wollten, und setzten hinzu, sie müßten ihn zwar für einen braven und guten Jungen anerkennen, hielten ihn aber weder für thätig noch für unternehmend genug, etwas Außerordentliches zu leisten. Indem er nun, zu seiner Rechtfertigung, umständlich auseinandersetzte, was er sich zu leisten getraue und wie er es anzufangen gedenke, so wurden die Übrigen auch angereizt, und jeder fing nun an zu erzählen, was er schon vermöge, thue, treibe, welchen Weg er zurückgelegt und was er zunächst vor sich sehe. Die Reihe kam zuletzt an mich. Ich sollte nun auch meine Lebensweise und Aussichten darstellen, und indem ich mich besann, sagte Pylades: „Das Einzige behalte ich mir vor, damit wir nicht gar zu kurz kommen, daß er die äußern Vortheile seiner Lage nicht mit in Anrechnung bringe. Er mag uns lieber ein Mährchen erzählen, wie er es anfangen würde, wenn er in diesem Augenblick, so wie wir, ganz auf sich selbst gestellt wäre.“

Gretchen, die bis diesen Augenblick fortgesponnen hatte, stand auf und setzte sich wie gewöhnlich an’s Ende des Tisches. Wir hatten schon einige Flaschen geleert, und ich fing mit dem besten Humor meine hypothetische Lebensgeschichte zu erzählen an. Zuvörderst also empfehle ich mich euch, sagte ich, daß ihr mir die Kundschaft erhaltet, welche mir zuzuweisen ihr den Anfang gemacht habt. Wenn ihr mir nach und nach den Verdienst der sämmtlichen Gelegenheitsgedichte zuwendet, und wir ihn nicht bloß verschmausen, so will ich schon zu etwas kommen. Alsdann müßt ihr mir nicht übel nehmen, wenn ich auch in euer Handwerk pfusche. Worauf ich ihnen denn vorerzählte, was ich mir aus ihren Beschäftigungen gemerkt hatte, und zu welchen ich mich allenfalls fähig hielt. Ein jeder hatte vorher sein Verdienst zu Gelde angeschlagen, und ich ersuchte sie, mir auch zu Fertigung meines Etats behülflich zu sein. Gretchen hatte alles Bisherige sehr aufmerksam mit angehört, und zwar in der Stellung die sie sehr gut kleidete, sie mochte nun zuhören oder sprechen. Sie faßte mit beiden Händen ihre übereinander geschlagenen Arme und legte sie auf den Rand des Tisches. So konnte sie lange sitzen, ohne etwas anders als den Kopf zu bewegen, welches niemals ohne Anlaß oder Bedeutung geschah. Sie hatte manchmal ein Wörtchen mit eingesprochen und über dieses und jenes, wenn wir in unsern Einrichtungen stockten, nachgeholfen; dann war sie aber wieder still und ruhig wie gewöhnlich. Ich ließ sie nicht aus den Augen, und daß ich meinen Plan nicht ohne Bezug auf sie gedacht und ausgesprochen, kann man sich leicht denken, und die Neigung zu ihr gab dem was ich sagte, einen Anschein von Wahrheit und Möglichkeit, daß ich mich selbst einen Augenblick täuschte, mich so abgesondert und hülflos dachte, wie mein Mährchen mich voraussetzte, und mich dabei in der Aussicht sie zu besitzen höchst glücklich fühlte. Pylades hatte seine Confession mit der Heirath geendigt, und bei uns andern war nun auch die Frage, ob wir es in unsern Planen so weit gebracht hätten. Ich zweifle ganz und gar nicht daran, sagte ich: denn eigentlich ist einem jeden von uns eine Frau nöthig, um das im Hause zu bewahren und uns im Ganzen genießen zu lassen, was wir von außen auf eine so wunderliche Weise zusammenstoppeln. Ich machte die Schilderung von einer Gattin, wie ich sie wünschte, und es müßte seltsam zugegangen sein, wenn sie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild gewesen wäre.

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 278)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Das liebe Mädchen zu sehen und neben ihr zu sein, war nun bald eine unerläßliche Bedingung meines Wesens. Jene hatten sich eben so an mich gewöhnt, und wir waren fast täglich zusammen, als wenn es nicht anders sein könnte. Pylades hatte indessen seine Schöne auch in das Haus gebracht, und dieses Paar verlebte manchen Abend mit uns. Sie als Brautleute, obgleich noch sehr im Keime, verbargen doch nicht ihre Zärtlichkeit; Gretchens Betragen gegen mich war nur geschickt, mich in Entfernung zu halten. Sie gab niemanden die Hand, auch nicht mir; sie litt keine Berührung; nur setzte sie sich manchmal neben mich, besonders wenn ich schrieb oder vorlas, und dann legte sie mir vertraulich den Arm auf die Schulter, sah mir in’s Buch oder auf’s Blatt; wollte ich mir aber eine ähnliche Freiheit gegen sie herausnehmen, so wich sie und kam sobald nicht wieder.

Dichtung und Wahrheit V (WA I 26, 279)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

Eine der unschuldigsten und zugleich unterhaltendsten Lustpartien, die ich mit verschiedenen Gesellschaften junger Leute unternahm, war, daß wir uns in das Höchster Marktschiff setzten, die darin eingepackten seltsamen Passagiere beobachteten und uns bald mit diesem bald mit jenem, wie uns Lust und Muthwille trieb, scherzhaft und neckend einließen. Zu Höchst stiegen wir aus, wo zu gleicher Zeit das Marktschiff von Mainz eintraf. In einem Gasthofe fand man eine gut besetzte Tafel, wo die Besseren der Auf- und Abfahrenden mit einander speis’ten und alsdann jeder seine Fahrt weiter fortsetzte; denn beide Schiffe gingen wieder zurück. Wir fuhren dann jedesmal nach eingenommenem Mittagsessen hinauf nach Frankfurt und hatten in sehr großer Gesellschaft die wohlfeilste Wasserfahrt gemacht, die nur möglich war. Einmal hatte ich auch mit Gretchens Vettern diesen Zug unternommen, als am Tisch in Höchst sich ein junger Mann zu uns gesellte, der etwas älter als wir sein mochte. Jene kannten ihn und er ließ sich mir vorstellen. Er hatte in seinem Wesen etwas sehr Gefälliges, ohne sonst ausgezeichnet zu sein. Von Mainz heraufgekommen fuhr er nun mit uns nach Frankfurt zurück, und unterhielt sich mit mir von allerlei Dingen, welche das innere Stadtwesen, die Ämter und Stellen betrafen, worin er mir ganz wohl unterrichtet schien. Als wir uns trennten, empfahl er sich mir und fügte hinzu: er wünsche, daß ich gut von ihm denken möge, weil er sich gelegentlich meiner Empfehlung zu erfreuen hoffe. Ich wußte nicht was er damit sagen wollte, aber die Vettern klärten mich nach einigen Tagen auf; sie sprachen Gutes von ihm und ersuchten mich um ein Fürwort bei meinem Großvater, da jetzt eben eine mittlere Stelle offen sei, zu welcher dieser Freund gern gelangen möchte. Ich entschuldigte mich anfangs, weil ich mich niemals in dergleichen Dinge gemischt hatte; allein sie setzten mir so lange zu, bis ich mich es zu thun entschloß. Hatte ich doch schon manchmal bemerkt, daß bei solchen Ämtervergebungen, welche leider oft als Gnadensachen betrachtet werden, die Vorsprache der Großmutter oder einer Tante nicht ohne Wirkung gewesen. Ich war so weit herangewachsen, um mir auch einigen Einfluß anzumaßen. Deßhalb überwand ich, meinen Freunden zu Lieb’, welche sich auf alle Weise für eine solche Gefälligkeit verbunden erklärten, die Schüchternheit eines Enkels, und übernahm es, ein Bittschreiben, das mir eingehändigt wurde, zu überreichen.

Eines Sonntags nach Tische, als der Großvater in seinem Garten beschäftigt war, um so mehr als der Herbst herannahte, und ich ihm allenthalben behülflich zu sein suchte, rückte ich nach einigem Zögern mit meinem Anliegen und dem Bittschreiben hervor. Er sah es an und fragte mich, ob ich den jungen Menschen kenne? Ich erzählte ihm im Allgemeinen was zu sagen war, und er ließ es dabei bewenden. „Wenn er Verdienst und sonst ein gutes Zeugniß hat, so will ich ihm um seinet- und deinetwillen günstig sein.“ Mehr sagte er nicht, und ich erfuhr lange nichts von der Sache.

Bettina Brentano an Goethe 28. 11. 1810 (Bergemann S. 328)

Frankfurt Spätsommer/Herbst 1763

In seiner Kleidung war er nun ganz entsezlich eigen – ich [Elisabeth Goethe] mußte ihm täglich 3 Toiletten besorgen: auf einen Stuhl hing ich einen Überrock lange Beinkleider ordinäre Weste, stellte ein paar Stiefel dazu, auf den 2ten einen Frack, seidne Strumpf die er schon angehabt hatte, Schuhe pp, auf den dritten kam alles vom feinsten nebst Degen und Haarbeutel; das erste zog er im Hauße an, das zweite wenn er zu täglichen Bekannten ging, das dritte zum Galla. kam ich nun am andern Tag hinein, da hatte ich Ordnung zu stiften: da standen die Stiefel auf den feinen Manschetten und Halskrausen, die Schue standen gegen Osten und Westen, ein Stück lag da das andre dort; da schüttelte ich den Staub aus den Kleidern, legte frische Wäsche hin, brachte alles wieder ins Geleis; wie ich nun so eine Weste nehme und sie am offenen Fenster recht herzhaft in die Luft schwinge, fahren mir plözlich eine menge kleiner Steine ins Gesicht; darüber fing ich an zu fluchen, er kam hinzu, ich zanke ihn aus: die Steine hätten mir ja ein Aug aus dem Kopf schlagen können; – nun es hat Ihr ja kein Aug ausgeschlagen! wo sind dann die Steine? ich muß sie wiederhaben, helf sie mir sie wieder suchen! sagte er. nun muß er sie wohl von seinem Schaz bekommen haben, denn er bekümmerte sich gar nur um die Steine: es waren ordinäre Kisselsteingen und Sand; daß er den nicht mehr zusammen lesen konnte, war ihm ärgerlich; alles, was noch da war, wickelte er sorgfältig in ein Papier und trugs fort. den Tag vorher war er in Offenbach gewesen: da war ein Wirtshauß zur Rose, die Tochter hieß das schöne Gretgen, er hatte sie sehr gern; das war die erste, von der ich weiß, daß er sie lieb hatte ...

Diese Geschichte habe ich nun ganz ungemein lieb, Deine Mutter hat sie mir wohl zwanzig mal erzehlt; manchmal sezte sie hinzu, daß die Sonne ins Fenster geschienen habe, daß Du roth geworden seyst, daß Du die aufgesammelten Steingen fest ans Herz gehalten und damit fortmarschiert, ohne auch nur eine Entschuldigung gemacht zu haben, daß sie ihr ins Gesicht geflogen.

Zitierhinweis

Online-Edition:
BuG I, BuG01_A_0023 (Ernst Grumach/Renate Grumach), in: https://goethe-biographica.de/id/BuG01_A_0023.

Entspricht Druck:
BuG I, S. 32 ff. (Ernst Grumach/Renate Grumach).

Zurück zum Seitenanfang