Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 147
Von Johann Kaspar Lavater

19. Mai 1781, Zürich

| 1 |


Lieber Goethe,


   Allso hab ich dem Herzo-
gen deine Büste, und den cräjonirten ru-
higdenkenden, sonst für mich unintereßan-
ten Kopf von ich weiß nicht wem? zu
danken. Hier deswegen ein Wort an
den Herzog. Lies den Brief auch, Tischbeins
wegen.


   "Grüß den lieben Tobler viva vo-
ce!


   Die Woldemarsche Geschichte wollen
wir nun gehen laßen. Übrigens kannst
du errathen, wie sehr mich Weibchen sol-
che Dinge, deinethalben verwunden. Für
Nichts und wider Nichts würf' ich gern
weder eine Stunde, noch etwas von mei-
nem guten Rufe weg – am allerwenig- | 2 |
sten, um einem Menschen weehe zuthun,
mit dem ich in meinem Leben auch nur
Eine Suppe aß. Doch freüte mich deine
offene gerade Art, wie Du von dem Dinge
sprach. – Nun, dies sey abgethan – das
sind Dinge, die nicht wiederkommen.


   Über Calliostro schreibt mir Bran-
koni kein Wort – als: "Meine Feder ist
stumpf; ich darf nicht!" Ich weiß nicht,
ob ich dir schon gemeldet, daß zuverläs-
ige neüere Berichte von Mietau aus es
außer allen Zweifel sezen, daß Er in
der Magie sehr stark ist. –


   Izt mahlt Tisch-
bein der B. Hauptunterstüzende Hand.
Ein Kopf, den Er von mir macht, ver-
schlingt alles, was je von mir gemacht | 3 |
worden, auf immer und ewig. Ich soll-
te aber nicht mehr von Mahlerey ur-
theilen.


   Das Geld, mein Lieber, nämlich die
5. N'Louisd'or für Bückle an mich zu re-
fundiren, hast du vergeßen.


   In mir Lieber herrscht, oder viel-
mehr auf der Oberfläche meiner Seele –
gährt ein Schaum allgenießender Sinn-
lichkeit, und innwendig verzehrt mich eine
Gluht nach Wahrheit und Gewißheit – eine
Verachtung alles, was ich bin und thue –
Ich fühle, daß ich in einer Taüschung le-
be. Ich kann weder der Taüschung noch
des Gefühles los werden – und dann
drückt mich oft der ungeheüre Kontrast | 4 |
meiner so manichfaltigen aüßern Ver-
hältniße mit meinem innwendigen na-
menlosen Wesen – das tiefe Gefühl von
der Wahrheit des Evangeliums – und das
tiefe Gefühl von der unendlichen Entfernt-
heit meines Sinnes und aller, aller, al-
ler Menschen von diesem Einzigwahren
wirft mich wechselsweise hin und her –
Kann mich zwahr nicht muthlos machen –
Ich hoffe noch – Aber, es wirft mich oft
in tiefe Nächte –


   Der impudente Reynald, den ich hier
zeichnen ließ, hat eine Franzosenidee
von einem Obelisk im Schaume seines
Hirns – Ich hoffe und weiß, wie ich ihn
zukennen glaube, daß nichts daraus
werden soll – Er ist der garstigste Geiz- | 5 |
hals, und von oben bis unten ist nichts
an ihm, als der Autor, der berühmte
Mann – der Prinzen und Prinzeßinnen
Dejeünés giebt – und den Königen die
Wahrheit sagt – die ganze Existenz die-
ses freylich Talentreichen Mannes ist kei-
nes Schußes Pulvers werth.


   Adieu – daß ich Toblern noch ein
Wörtchen geben könne.


   
    L.


S:  Zentralbibliothek Zürich  D:  GL Nr. 106  B : 1781 Mai 7 (WA IV 5, Nr. 1223)  A : 1781 Juni 22 (WA IV 5, Nr. 1256)  V:  Abschrift 

In dem beiliegenden Brief (vom 19. Mai) danke L. dem Herzog für G.s Büste und den cräjonirten [...] Kopf (vgl. RA 1, Nr. 144). G. möge ihn W. Tischbeins wegen lesen. - Die Woldemarsche Geschichte wollen wir nun gehen laßen (vgl. RA 1, Nr. 143). - Mitteilungen aus Mitau über Cagliostro. M. A. von Branconi schreibe über ihn kein Wort an L. - Tischbein male B. Schultheß und L. - Das Geld [...] für Bückle an mich zurefundiren, hast du vergeßen (vgl. RA 1, Nr. 140). - Beschreibung seiner inneren Zerrissenheit: [...] auf der Oberfläche meiner Seele - gährt ein Schaum allgenießender Sinnlichkeit, und innwendig verzehrt mich eine Gluht nach Wahrheit und Gewißheit [...]. - G. T. F. Raynals Idee, auf der Rütliwiese einen Obelisken zu errichten, werde gewiß nicht verwirklicht werden. - Gruß an G. C. Tobler.

| 1 |

Lieber Goethe,

  Allso hab ich dem Herzogen deine Büste, und den cräjonirten ruhigdenkenden, sonst für mich unintereßanten Kopf von ich weiß nicht wem? zu danken. Hier deswegen ein Wort an den Herzog. Lies den Brief auch, Tischbeins wegen.

  "Grüß den lieben Tobler viva vo- ce!

  Die Woldemarsche Geschichte wollen wir nun gehen laßen. Übrigens kannst du errathen, wie sehr mich Weibchen solche Dinge, deinethalben verwunden. Für Nichts und wider Nichts würf' ich gern weder eine Stunde, noch etwas von meinem guten Rufe weg – am allerwenig| 2 |sten, um einem Menschen weehe zuthun, mit dem ich in meinem Leben auch nur Eine Suppe aß. Doch freüte mich deine offene gerade Art, wie Du von dem Dinge sprach. – Nun, dies sey abgethan – das sind Dinge, die nicht wiederkommen.

  Über Calliostro schreibt mir Brankoni kein Wort – als: "Meine Feder ist stumpf; ich darf nicht!" Ich weiß nicht, ob ich dir schon gemeldet, daß zuverläsige neüere Berichte von Mietau aus es außer allen Zweifel sezen, daß Er in der Magie sehr stark ist. –

  Izt mahlt Tischbein der B. Hauptunterstüzende Hand. Ein Kopf, den Er von mir macht, verschlingt alles, was je von mir gemacht| 3 | worden, auf immer und ewig. Ich sollte aber nicht mehr von Mahlerey urtheilen.

  Das Geld, mein Lieber, nämlich die 5. N'Louisd'or für Bückle an mich zu refundiren, hast du vergeßen.

  In mir Lieber herrscht, oder vielmehr auf der Oberfläche meiner Seele – gährt ein Schaum allgenießender Sinnlichkeit, und innwendig verzehrt mich eine Gluht nach Wahrheit und Gewißheit – eine Verachtung alles, was ich bin und thue – Ich fühle, daß ich in einer Taüschung lebe. Ich kann weder der Taüschung noch des Gefühles los werden – und dann drückt mich oft der ungeheüre Kontrast| 4 | meiner so manichfaltigen aüßern Verhältniße mit meinem innwendigen namenlosen Wesen – das tiefe Gefühl von der Wahrheit des Evangeliums – und das tiefe Gefühl von der unendlichen Entferntheit meines Sinnes und aller, aller, aller Menschen von diesem Einzigwahren – wirft mich wechselsweise hin und her – Kann mich zwahr nicht muthlos machen – Ich hoffe noch – Aber, es wirft mich oft in tiefe Nächte –

  Der impudente Reynald, den ich hier zeichnen ließ, hat eine Franzosenidee von einem Obelisk im Schaume seines Hirns – Ich hoffe und weiß, wie ich ihn zukennen glaube, daß nichts daraus werden soll – Er ist der garstigste Geiz| 5 |hals, und von oben bis unten ist nichts an ihm, als der Autor, der berühmte Mann – der Prinzen und Prinzeßinnen Dejeünés giebt – und den Königen die Wahrheit sagt – die ganze Existenz dieses freylich Talentreichen Mannes ist keines Schußes Pulvers werth.

  Adieu – daß ich Toblern noch ein Wörtchen geben könne.

    L.

 

 
 

Nutzungsbedingungen

Kontrollen

Kontrast:
SW-Kontrastbild:
Helligkeit:

Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 147, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0147_00160.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 147.

Zurück zum Seitenanfang