Briefe an Goethe: RA 1, Nr. 194
Von Justus Christian Loder

31. Oktober 1784, Jena

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Ew: Hochwohlgeboren sende ich den mir geneigtest communicirten Aufsatz mit dem
verbindlichsten Dank zurück. Ich habe bey Durchlesung desselben so viel Vergnü-
gen empfunden, und Ihre Präcision in der anatomischen Beschreibung so wol,
als Ihren Blick in die Physiologie des Theils so sehr bewundert, daß ich in
der anatomischen Begeisterung es in vollem Ernst bedauerte, daß Sie Minister und
nicht Professor Anatomiae sind. Sie werden mir aber antworten, wie Kayser
Leopold einem Musicus, der dem Kayser, der ihm etwas auf dem Clavier
vorgespielt hatte, in voller Extase um den Hals fiel, und es bedauerte, daß
er kein Musicus geworden: "Wir stehen uns halter so auch gut.


   Ich habe nichts zu ändern gefunden, als ein Paar Kleinigkeiten, die der
Mühe des Nennens nicht werth sind.


   Den Titel vom Cheselden habe ich am Rande beygefügt, aber das durch-
gestrichen, was man wegzulassen pflegt, wenn man das Buch citirt. Auch
den Titel vom John Hunter habe ich beygesezt. Das Buch vom Scarpa
ist noch nicht heraus; es wird aber den Titel kriegen: Annotationum
anatomicarum liber secundus. Er hat mir eben seine Werke zugeschickt,
weil seine große Eilfertigkeit ihn nöthigte, Jena aus dem Wege zu lassen,
ob er mir gleich seine Ankunft annoncirt hatte, auch seine Briefe hieher
hatte addressiren lassen. Unter seinen Werken ist das erste Buch von
den anat. annotatt. und eine oration, die er bey dem Antritt seiner
neuen Lehrstelle in Pavia (er war vorher in Modena) gehalten hat;
in dieser kündigt er das zweyte Buch der annotatt. an, verspricht mir
auch im Brief, mir es, so bald es herauskommen würde, zu schicken. Das
Kupfer quaest. ist also eigentlich noch nicht zum öffentlichen Gebrauch qua-
lificirt. | 2 |
Ein Paar sehr merkwürdige Stellen aus dem Vesal lege ich in copia bey.
Weil die Zeichnung im Vesal Ihnen sehr interessant seyn wird, so will
ich ihn diesen Abend mit der Post überschicken; ich bitte mir ihn aber bald
wieder aus, weil ich ihn immer brauche.


   Den Albin habe ich von Durchℓ. dem Herzog noch nicht zurück. Weil ich
ihn – zumal die Tafeln von den Muskeln – sehr nothwendig brauche, so
habe ich schon vor 8 Tagen Hrn. Rath Kraus gebeten, mir ihn durch Hrn.
Rath Bertuch wiederzuschaffen. Sie haben ihn in Weimar vergeblich
gesucht, und daher geglaubt, daß er noch bey der Frau Gräfin Werther
liegen mag. Hℓ. R. Kraus hat mir versprochen, drum zu schreiben,
weil ich ihn sehr drum bat.


   Da ich meine Köpfe revidire, finde ich, daß die Sutur des ossis interma-
xillaris im processu palatino ossis maxill. Superioris bey einigen craniis,
wo die andern Suturen alle noch sehr sichtbar und nicht verwachsen sind, doch
schon völlig verwachsen ist. Dies läßt die Ursache errathen, warum diese
Sutur von so vielen Anatomen (die aber freylich Vesals Zeichnung über-
sehen haben müssen) nicht bemerkt worden ist.


   An einem Kopf eines Jungen von 12 Jahren, den ich mit schicke, und
mir gelegentlich wieder zurück erbitte, läuft aus der Sutur eine andre
kleine Spalte zwischen dem ersten und zweyten Schneidezahn, wodurch gleich-
sam eine Art von kleiner Insel im Knochen gebildet wird. Weil die-
ses eine artige Varietät ist, so schicke ich den Schädel mit.


   Den Didelphis-­Kopf lege ich auch mit bey. Weil an dem einen die
Schneidezähne der obern Kinlade ausgefallen sind, so habe ich geschwind
noch einen skeletirt.


   Vor der Hand weiß ich nichts hinzuzufügen.


   Erlauben Sie mir nur noch, anzumerken, daß es mir anfangs sehr sauer | 3 |
ankam, zu lesen, daß diese schöne Abhandlung an den Prof. Sömmerring
gerichtet ist. Er war sonst mein Freund, und wir arbeiteten in Göttingen
lange gemeinschaftlich; ein Mißverstand trennte uns am Ende unsres
Akademischen Lebens. Ich hielt ihn doch noch immer, wo nicht für meinen
Freund, doch für einen Mann, von dem ich nichts Böses zu vermuthen hätte.
Ein Brief von mir, den er in der Absicht mißbrauchte, mir Schaden zu
thun, und wovon ich durch mehr als Einen meiner Freunde Nachricht bekam,
trennte mich ganz von ihm, und lehrte mich sein Herz kennen, das
mir dadurch eben so verächtlich ward, als ich seinen Kopf hochschäzte. Er be-
merkte meine Kaltsinnigkeit gegen ihn, und war – ich weiß nicht, wie ich sagen
soll – so dreist, mich vor einem Jahr in Göttingen, wo ich ihm auf der Gasse
begegnete, um die Ursache zu fragen. Ich hielt ihm also endlich das Factum
vor, und brachte ihn dadurch so sehr aus aller Fassung, wie ich noch nie einen
Menschen in meinem Leben gesehn habe, und nie zu sehen wünsche. Er
konnte nicht anders, als selbst seine Handlung schwarz und boshaft nennen.
Seit diesem Tage sind wir ganz auseinander gekommen, und ich glaube,
daß wir auch nie zusammenkommen werden.


   Verzeihen Ew: Hochwohlgeboren mir, daß ich Ihnen, bey dieser Veran-
lassung eine Sache gesagt habe, deren ich sonst nicht erwähnt haben würde.
Der Einzige, der bisher davon wuste, war der Prof. Wrisberg in Göttin-
gen, dem wir beyde ursprünglich alles zu danken haben, den er aber nicht
weniger, als mich, beleidigt hat.


   Ihrer Ankunft in Jena sehe ich mit vieler Freude entgegen. Ist es möglich,
so bitte ich Ew: Hochwohlgeboren die Cabinets-­Rechnung von Hrn. Geh. K. R. Gries-
bach und die vorherige von mir, nebst den Monitis und deren Beantwortung,
mit zu nehmen. Unterdessen empfehle ich mich Ihrer fernern Gewogenheit
aufs ehrerbietigste.


    Loder.


   So eben habe ich in Paris eine Sammlung von 50 Stück Knochenkrankheiten für 25
Carolin gekauft, die ich etwa gegen Weihnachten erwarte. Es sind ausnehmend schöne
und seltne Stücke darunter. Auch aus Davids Nachlaß, der eben gestorben ist,
habe ich einige schöne Sachen zu hoffen.


S:  GSA 28/574 St. 1  D:  LAII 9A, 300f. (T)  B : -  A : - 

Mit Dank und Bewunderung sende er G.s Aufsatz "Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben" (Abschnitt 1, Konzept in Briefform an S. T. Soemmerring, vgl. WA II 8, 317-324) zurück. Ich habe nichts zu ändern gefunden, als ein Paar Kleinigkeiten [...]. Die Werktitel von W. Cheselden ("Osteographia", London 1733) und J. Hunter ("Natural history of the human teeth", deutsch, Leipzig 1780) habe er am Rande beygefügt. Das 2. Buch von A. Scarpas "Anatomicarum annotationum Lib. I" (Pavia und Mailand 1792) sei noch nicht erschienen und das Kupfer [...] also eigentlich noch nicht zum öffentlichen Gebrauch qualificirt. L. sende abschriftlich ein paar sehr merkwürdige Stellen aus A. Vesalius' Werk ("De humani corporis fabrica", Basel 1543). Das Werk von B. S. Albinus (? "Tabulae sceleti et musculorum corporis humani", Leiden 1747) habe er noch nicht von Herzog Karl August zurückerhalten. Mitteilung seiner weiteren Beobachtungen zur Sutur des Zwischenkieferknochens. Übersendung des Schädels eines Jungen von 12 Jahren und des Didelphis-Kopfes. Es sei L. anfangs sehr sauer angekommen zu lesen, daß diese schöne Abhandlung an S. T. Soemmerring gerichtet sei; über die Gründe seines Zerwürfnisses mit diesem. - Aus Paris erwarte er 50 Stück Knochenkrankheiten und einige schöne Sachen aus J. P. Davids Nachlaß. - Freude auf G.s Ankunft in Jena. G. möge die Cabinets-Rechnung von J. J. Griesbach und die vorherige von mir mitnehmen.

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 Ew: Hochwohlgeboren sende ich den mir geneigtest communicirten Aufsatz mit dem verbindlichsten Dank zurück. Ich habe bey Durchlesung desselben so viel Vergnügen empfunden, und Ihre Präcision in der anatomischen Beschreibung so wol, als Ihren Blick in die Physiologie des Theils so sehr bewundert, daß ich in der anatomischen Begeisterung es in vollem Ernst bedauerte, daß Sie Minister und nicht Professor Anatomiae sind. Sie werden mir aber antworten, wie Kayser Leopold einem Musicus, der dem Kayser, der ihm etwas auf dem Clavier vorgespielt hatte, in voller Extase um den Hals fiel, und es bedauerte, daß er kein Musicus geworden: "Wir stehen uns halter so auch gut.

  Ich habe nichts zu ändern gefunden, als ein Paar Kleinigkeiten, die der Mühe des Nennens nicht werth sind.

  Den Titel vom Cheselden habe ich am Rande beygefügt, aber das durchgestrichen, was man wegzulassen pflegt, wenn man das Buch citirt. Auch den Titel vom John Hunter habe ich beygesezt. Das Buch vom Scarpa ist noch nicht heraus; es wird aber den Titel kriegen: Annotationum anatomicarum liber secundus. Er hat mir eben seine Werke zugeschickt, weil seine große Eilfertigkeit ihn nöthigte, Jena aus dem Wege zu lassen, ob er mir gleich seine Ankunft annoncirt hatte, auch seine Briefe hieher hatte addressiren lassen. Unter seinen Werken ist das erste Buch von den anat. annotatt. und eine oration, die er bey dem Antritt seiner neuen Lehrstelle in Pavia (er war vorher in Modena) gehalten hat; in dieser kündigt er das zweyte Buch der annotatt. an, verspricht mir auch im Brief, mir es, so bald es herauskommen würde, zu schicken. Das Kupfer quaest. ist also eigentlich noch nicht zum öffentlichen Gebrauch qua- lificirt.| 2 | Ein Paar sehr merkwürdige Stellen aus dem Vesal lege ich in copia bey. Weil die Zeichnung im Vesal Ihnen sehr interessant seyn wird, so will ich ihn diesen Abend mit der Post überschicken; ich bitte mir ihn aber bald wieder aus, weil ich ihn immer brauche.

  Den Albin habe ich von Durchℓ. dem Herzog noch nicht zurück. Weil ich ihn – zumal die Tafeln von den Muskeln – sehr nothwendig brauche, so habe ich schon vor 8 Tagen Hrn. Rath Kraus gebeten, mir ihn durch Hrn. Rath Bertuch wiederzuschaffen. Sie haben ihn in Weimar vergeblich gesucht, und daher geglaubt, daß er noch bey der Frau Gräfin Werther liegen mag. Hℓ. R. Kraus hat mir versprochen, drum zu schreiben, weil ich ihn sehr drum bat.

  Da ich meine Köpfe revidire, finde ich, daß die Sutur des ossis interma- xillaris im processu palatino ossis maxill. Superioris bey einigen craniis, wo die andern Suturen alle noch sehr sichtbar und nicht verwachsen sind, doch schon völlig verwachsen ist. Dies läßt die Ursache errathen, warum diese Sutur von so vielen Anatomen (die aber freylich Vesals Zeichnung übersehen haben müssen) nicht bemerkt worden ist.

  An einem Kopf eines Jungen von 12 Jahren, den ich mit schicke, und mir gelegentlich wieder zurück erbitte, läuft aus der Sutur eine andre kleine Spalte zwischen dem ersten und zweyten Schneidezahn, wodurch gleichsam eine Art von kleiner Insel im Knochen gebildet wird. Weil dieses eine artige Varietät ist, so schicke ich den Schädel mit.

  Den Didelphis-­Kopf lege ich auch mit bey. Weil an dem einen die Schneidezähne der obern Kinlade ausgefallen sind, so habe ich geschwind noch einen skeletirt.

  Vor der Hand weiß ich nichts hinzuzufügen.

  Erlauben Sie mir nur noch, anzumerken, daß es mir anfangs sehr sauer| 3 | ankam, zu lesen, daß diese schöne Abhandlung an den Prof. Sömmerring gerichtet ist. Er war sonst mein Freund, und wir arbeiteten in Göttingen lange gemeinschaftlich; ein Mißverstand trennte uns am Ende unsres Akademischen Lebens. Ich hielt ihn doch noch immer, wo nicht für meinen Freund, doch für einen Mann, von dem ich nichts Böses zu vermuthen hätte. Ein Brief von mir, den er in der Absicht mißbrauchte, mir Schaden zu thun, und wovon ich durch mehr als Einen meiner Freunde Nachricht bekam, trennte mich ganz von ihm, und lehrte mich sein Herz kennen, das mir dadurch eben so verächtlich ward, als ich seinen Kopf hochschäzte. Er bemerkte meine Kaltsinnigkeit gegen ihn, und war – ich weiß nicht, wie ich sagen soll – so dreist, mich vor einem Jahr in Göttingen, wo ich ihm auf der Gasse begegnete, um die Ursache zu fragen. Ich hielt ihm also endlich das Factum vor, und brachte ihn dadurch so sehr aus aller Fassung, wie ich noch nie einen Menschen in meinem Leben gesehn habe, und nie zu sehen wünsche. Er konnte nicht anders, als selbst seine Handlung schwarz und boshaft nennen. Seit diesem Tage sind wir ganz auseinander gekommen, und ich glaube, daß wir auch nie zusammenkommen werden.

  Verzeihen Ew: Hochwohlgeboren mir, daß ich Ihnen, bey dieser Veranlassung eine Sache gesagt habe, deren ich sonst nicht erwähnt haben würde. Der Einzige, der bisher davon wuste, war der Prof. Wrisberg in Göttingen, dem wir beyde ursprünglich alles zu danken haben, den er aber nicht weniger, als mich, beleidigt hat.

  Ihrer Ankunft in Jena sehe ich mit vieler Freude entgegen. Ist es möglich, so bitte ich Ew: Hochwohlgeboren die Cabinets-­Rechnung von Hrn. Geh. K. R. Griesbach und die vorherige von mir, nebst den Monitis und deren Beantwortung, mit zu nehmen. Unterdessen empfehle ich mich Ihrer fernern Gewogenheit aufs ehrerbietigste.

  Loder.

  So eben habe ich in Paris eine Sammlung von 50 Stück Knochenkrankheiten für 25 Carolin gekauft, die ich etwa gegen Weihnachten erwarte. Es sind ausnehmend schöne und seltne Stücke darunter. Auch aus Davids Nachlaß, der eben gestorben ist, habe ich einige schöne Sachen zu hoffen.

 

 
 

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Zitierhinweis

Online-Edition:
RA 1, Nr. 194, in: https://goethe-biographica.de/id/RA01_0194_00223.

Druck des Regests: RA 1, Nr. 194.

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